DER ZÄRTLICHE ZYNIKER (Trust # 104)


Spiegel Online vom 28.12.2003: Nationalisten in Umfragen vorn: Serben wählen neues Parlament

Warum schreiben sie sowas eigentlich nicht, wenn hier mal wieder gewählt wird? Weil keine Serben wählen? Nein, weil es Nationalismus schließlich nur bei den anderen gibt.

Am Neujahrsnachmittag wehte ein scharfer Wind von Osten. Ich hatte zu wenig angezogen. Aber der Schmerz im Gesicht wäre auch dann nicht anders gewesen, unwesentlich milder vielleicht. Es tat gut, sich diesem Schmerz auszusetzen, der Kopf noch etwas schwer von der Nacht davor.

Silvesterfeier. Diskussionen über die Studenten- und Schüler-Demos. Ein junger Mann beklagte die Umarmung der Bewegung durch die Politik, und dass keine Reibung entstünde. Kein Wunder bei den Zielen dieser Bewegung. Ein anderer junger Mann meinte, er wolle sich nicht mit den „Ideologen“, die eine Weltrevolution machen wollten, ins Boot setzen. Als ob es davon mehr als eine Handvoll gäbe.

Die Studentenbewegung dieser Tage ist einerseits so egal, wie sie andererseits ein ernüchterndes Licht auf diejenigen wirft, denen man aus alter Gewohnheit anlastet, sie seien vielleicht noch eher zu gewinnen für Ziele, die hier zu Lande, zu Wasser und in der Luft zu Recht verrufen sind, nimmt man als Recht hier an, was es vor allem ist: Ein gewaltsam durchgesetztes Verhältnis des gleichen Rechts für alle, was auf gar keinen Fall zu verwechseln wäre mit einer Forderung, die ich ebenfalls nicht teile: Gleicher Lohn für alle. Zum einen: „der Lohn“. Der nur dem blüht, der sich für ihn zu verdingen hat – bei Strafe des Elends. Zum anderen: „für alle“ das Gleiche, das mir doch dann nur etwas brächte, wollte ich das Gleiche wie alle, das auch allen nur etwas brächte, wollten sie alle das Gleiche. Und wäre der Lohn dann auch noch groß genug, dass er allen genügte. Lohn, so lässt sich leicht feststellen, ist für den Lohnabhängigen, die Lohnabhängige nie genug. Wofür sonst noch eine Versicherungspflicht, die das Proletariat in Sippenhaftung nimmt für seine Angehörigen? Ausgenommen von der ist vor allem der, der den Lohn zahlt (wenn auch nicht immer). Der ist von der Versicherungspflicht befreit, die doch eine Errungenschaft darstellen soll. Und seltsamerweise kommt der, der von dieser süßen Pflicht befreit, in den „Genuss“ von Leistungen, die einem Pflichtversicherten verwehrt bleiben. Morgenstund hat Gold im Mund. Morgenstund muss wohl privat versichert sein.

Es gibt ein Sprichwort, das sagt, Ficken und Besoffensein sei des kleinen Mannes Sonnenschein. Die kleine Frau weiß trunken ein Lied davon zu trällern. Kein schönes Lied. Leicht verwaschen vielleicht in der Aussprache. Sacht schlingernd im Takt des rechten Arms, der das Bügeleisen führt, mit dem die Hemden des kleinen Mannes geplättet werden.

Nichts gegen Ficken und Besoffensein! Nichts gegen Sonnenschein…

Flashback: Was hatte ich mir eigentlich als junger Arrogant vorgestellt, wo ich in den Mittdreißigern stehen würde? Life’s a bitch and then you die? Wahrscheinlich wusste ich genug, um mir diese Frage nicht zu stellen, und zu wenig, um vernünftige Schlüsse daraus zu ziehen.

Fragt mich neulich eine Praktikantin bei der Zeitung, für die ich ab und an Korrektur lese, was ich sonst so mache (dass von dem Job niemand leben kann, war auch ihr klar). Sie war mir schon aufgefallen: eine große Frau mit Schlaghosen, Pilzkopf und Brille. Physisch, wie ich das so gern hab. Wir also ins Raucherzimmer. Natürlich, so dachte ich, würde ich mit dieser Frau ins Bett gehen, wenn es sich ergäbe. Dann: Würde ich eigentlich wollen, dass es nicht nur das wäre, sondern jemand, der nicht nur deshalb dort mit mir wäre. Später erfahre ich, dass ich sie beeindruckt habe mit meinen Jobs, den vielen. Bräuchte ich doch nur weniger davon…

Die Differenz ist klar: Um sowas gut zu finden, muss man grundsätzlich einverstanden sein mit dem gesellschaftlichen Status Quo, der bescheidenen Armut. An dieser Stelle kann ich kurz jemandem einen Wunsch erfüllen. Es könne interessant sein, was sich Mitarbeiter dieser ehrwürdigen Publikation an Platten kaufen von ihrem schmalen Taschengeld. Eine von Bob Dylan zum Beispiel. „Blood On The Tracks“ namentlich. Eine auf der ein Song namens „You’re A Big Girl Now“ ist. Darin heißt es:

Our conversation was short and sweet

It nearly swept me off-a my feet.

And I’m back in the rain, oh, oh,

And you are on dry land.

You made it there somehow

You’re a big girl now.

Bird on the horizon, sittin‘ on a fence,

He’s singin‘ his song for me at his own expense.

And I’m just like that bird, oh, oh,

Singin‘ just for you.

I hope that you can hear,

Hear me singin‘ through these tears.

(…)

Das ist es manchmal, wie Dylan es in einem anderen Song auf dem gleichen Album singt:

She lit a burner on the stove and offered me a pipe

„I thought you’d never say hello,“ she said

„You look like the silent type.“

Then she opened up a book of poems

And handed it to me

Written by an Italian poet

From the thirteenth century.

And every one of them words rang true

And glowed like burnin‘ coal

Pourin‘ off of every page

Like it was written in my soul from me to you,

Tangled up in blue.

Okay, sie gab dir keinen Gedichtband von einem italienischen Dichter des 13. Jahrhunderts. Aber sie war überrascht, dass du sprachst. Und es hatte Überwindung gekostet. Und du sagtest, dass es die Schüchternheit sei, und es klang kokett, weil dich dein Handeln Lügen zu strafen schien. Und sie tippte sich leicht an die Stirn, weil sie das nicht genauso sah, aber immerhin (auf) Koketterie erkannte. Und dann noch auf ein paar Bier in die Scandia Bar und irgendwie war es wieder das selbe Ding. Sind wir so verschroben geworden über die Jahre? Ich verstehe dich, aber was ich verstehe, halte ich für dummes Zeug. Wir denken beide kurz daran, ob es nicht trotzdem geil wäre, ficken zu gehen. Und verwerfen zumindest den Gedanken soweit, dass wir beide keine größeren Anstrengungen investieren – warten, bis das Gegenüber die Entscheidung übernimmt. Was für eine Scheiße!

Es gibt wichtigere Dinge. Weshalb ich mein Leben aufschreibe, beim Photographen freundliche Photos von mir andertigen lasse, einst geschriebene Artikel photokopiere und alles zusammen an Firmen schicke, bei denen ich mich so auf Jobs bewerbe. Weshalb ich mich mit Leuten treffe, um zu sehen, ob nicht eine Zusammenarbeit gedeihlich wäre, für den Konzern und für mich. Weshalb ich hoffe, dass ich weiterhin einmal die Woche in die postindustrielle Tristesse von Farge fahre, die auch dadurch kaum weniger trist ist, dass ich diesen entlegenen Stadtteil dann und wann Fargo nenne, bin ich mal zu Späßen aufgelegt. Weshalb ich mir gerade CDs anhöre, um zu entscheiden, welche ich in den Second-Hand-Laden bringe, um mir Bargeld oder andere CDs geben zu lassen. Um mir die kaminlosen Stunden ohne Badewanne zu versüßen, in denen ich mal Gelegenheit habe, auf meinem Sofa zu liegen.

Die letzten Mitbringsel neben dem erwähnten, übrigens großartigen Dylan-Album waren die ersten beiden Alben von Townes Van Zandt, „Anutha Zone“ von Dr. John, „White Birch“ von Codeine, „Serpent Similar“ von Gastr del Sol, „On The Beach“ von Neil Young, „Electric Africa“ von Manu Dibango, „Nighthawks At The Diner“ von Tom Waits und ein Album von Hor, einer Band mit Greg Ginn, die von all dem Kram wohl der einzige Fehlgriff war, sieht man davon ab, dass das Dibango-Album doch stark unter dem Laswell-Sound der mittleren Achtziger leidet.

Soviel dazu.