Vor zehn Jahren


… gab es Neues von Jane’s Addiction, das ich im BREMER vielleicht etwas zu wohlwollend prüfte…

jane’s addiction /strays

capitol /emi

Nachdem es in den dreizehn Jahren ohne die süße Sucht immer wieder zu sporadischen Rückfällen kam, hat das Quartett um Perry Farrell jetzt endlich ein ganzes neues Album aufgenommen. Fast ist die Zeit spurlos an ihnen vorbeigegangen. Nur Bassist Martin LeNoble wollte irgendwann während der Aufnahmen zur neuen Platte nicht mehr. Musikalisch ist „Strays“ gleichwohl unverkennbar Jane’s Addiction. Eher „Nothing’s Shocking“ als „Ritual de lo Habitual“ – das längste Stück dauert gerade fünfeinhalb Minuten. Aber die Band hat sich nicht auf die bloße Wiederbeatmung eines alten Konzepts verlassen, sondern die nach wie vor in üppigen Farben schillernde Eleganz ihres glamoureusen Rock mit Einflüssen aus Funk und Folk ins Jahr 2003 übertragen. Die bekannten Facetten finden sich nach wie vor, ergänzt um zeitgenössische Momente aus Farrells Sampler und neuerem Metal – zum Glück, ohne je wirklich NuMetal zu sein. Die Botschaften Farrells – nicht zuletzt der Aufruf zu körperlicher Liebe sowie die Sorge um Mutter Natur – sind immer noch die gleichen. Deswegen hielt er es wohl auch für angezeigt, sein anderes Baby, das „Lollapalooza“-Festival wieder aufleben zu lassen. So dürften Comebacks gern öfter sein.

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Heute vor 15 Jahren


erschien in der taz Bremen folgende Ankündigung, die davon zeugt, dass ich damals noch nicht so richtig gemerkt hatte, wie gut und wichtig und – ja – auch innovativ Tortoise waren.

So gut wie vegetarische Burger

 Die Vorschau: Am Sonntag spielt auf dem Oldenburger Kultursommer die Chicagoer Schöngeistrockband Tortoise

Schenken wir der Musikpresse Glauben, dann machen Tortoise eigentlich das Beste seit, sagen wir, der Erfindung des vegetarischen Burgers. Eine neue Musik, die sich souverän über den alten, bösen, stinkenden Stiefel namens Rockmusik mitsamt dessen, was ihn so an überkommmener Ideologie füllt, hinwegsetzt.

Die unter dem Namen Tortoise versammelten Musiker haben die besten Referenzen. Allesamt entstammen sie fortschrittlichen Rockzirkeln, spielten in mindestens legendären Bands wie Squirrel Bait und dürfen sich jetzt somit umso ungenierter von dem abwenden, was einmal die nunmehr uninteressante Kinderstube war.

Dazu bedienen sie sich eines umfangreichen Instrumentariums. Auf diversen Klöppelgeräten wie Vibraphon und Xylophon, Saxophon, der Gitarre und elektronischem Gerät kreieren sie eine Musik, die bei Preisgabe überalterter Formen wie Strophe/Chorus/Strophe/Chorus zwischen Jazzrock und Ambiente neue Wege finden will. Dafür taugt die neuzeitliche Erfindung des Remix ebenso wie die gute alte Improvisation, die ja immer wieder neu ist, und deswegen gar nicht alt sein kann.

Tortoise, die ganz sicher nicht als erste und schon gar nicht als einzige mit der Auflösung geschlossener Konstruktionen, wie oben genannter Liedform operieren, wurden nichtsdestotrotz zu den Hauptexponenten einer Strömung, die mit dem wunderlichen Namen Post-Rock versehen wurde.

Das klingt nach Fortschritt, weil da, wo etwas „Post“ ist, etwas anderes hinter sich gelassen wurde. Daß die Musik von Tortoise nun wiederum so wenig spektakulär wirkt, so gar nichts Verstörendes an sich hat, mag da verblüffen. Aber was ohnehin im Wesen von Zeitgeist liegt, von modischen Strömungen, daß sie immer mal wieder neue Objekte der Anbetung brauchen, muss uns nicht gleich schlecht über eben jene Objekte denken lassen.

Tortoise machen schließlich Musik von unaufdringlicher Komplexität, von musikalischer Finesse und von großer Schönheit. Musik, die die Filmmusik der Siebziger ebenso kennt, wie weich rollende Perkussionsteppiche, Latinrhythmen und elektronische Klänge der jüngeren Vergangenheit. Die Schöngeister unter Ihnen sollten sich diesen Termin vormerken.

Good Time Charlies


Ich glaubte erst an eine Verwechslung – schließlich spielen auch Jawbreaker dieser Tage in Bremen, nur dass es sich nicht um die legendäre Punk-Band handelt, sondern um irgendwelche Metaller, die anderer Leute Lieder spielen und vielleicht nichtmal wissen, wer Jawbreaker waren… Die Good Time Charlies aber, die am kommenden Samstag (20.7.) im Römer mit den Meatles spielen, sind die gleiche Band, die schon vor elf Jahren das Bremer Sommerloch zu stopfen halfen:

taz Bremen 22.7.2002

Resch gestürmt

Die Good Time Charlies schütteten Punkrock in die Herzen. Quellen: Ramones, Ramones und Ramones

Wenn Redakteure und Redakteurinnen aller Ressorts sich vereinigen zum gemeinsamen Klagesang, wenn fleißigen Konzertgängern das Objekt ihrer Tugend flieht, das Schmeicheltier verreist, wenn die Wohnung leer ist, weil alle Welt ein Ding namens Urlaub hat – dann ist es gut, dass es junge Menschen wie die Good Time Charlies gibt. Vier junge Männer, deren gemeinsamer Name Programm ist.

Wahrscheinlich ist es auch kein Zufall, dass ausgerechnet sie in der Lage waren, die 60 bis 70 Menschen in der Tower Bar zu erretten. Die Good Time Charlies kommen aus Portsmouth im Vereinigten Königreich, wo, wie sie sagen, eines jeden Mannes Mutter eine Schwester ist, ein wenig so wie in Bremen, wie sie auch sagen.

Man wird sich sicher sein dürfen, dass der Sommer in Portsmouth nicht einmal verregneter sein wird, als der hiesige. Es gibt auch wenig Grund anzunehmen, dass all die Bands, die einen weiten Bogen um die ganze Stadt machen und manchmal sogar ums ganze Land, dass all diese Bands die sommerlichen Nächte in Portsmouth zum Vibrieren bringen.

Denn dann würden die vier jungen Männer, die gemeinsam die Good Time Charlies sind, den Sommer bestimmt in Portsmouth verbringen. Nein, ganz gewiss ist es in Portsmouth im Sommer ganz genauso öd – oder, je nach Geschmack: beschaulich – wie in dieser kleinen Stadt.

Umso besser, dass sie es auf sich nahmen, ihre Gitarren zu nehmen, um ein wenig Punkrock in die Herzen zu schütten. Sie taten dies mit bemerkenswerter Präzision, was dem Sujet entsprechend eine ganz gewisse Nuance der Ungenauigkeit impliziert.

Mit einem herrlich reschen, kontrolliert voranstürmenden Sound, gekrönt von eng geführten Gesangsharmonien führten die vier jungen Männer aus Portsmouth vor, wie sowas gehen kann. Mit Quellenangabe fassten sie pointiert zusammen, was sie unter Rock’n’Roll verstehen: Ramones, Ramones und Ramones. Vielleicht noch Rose Tattoo und die Beatles, aber vor allem die Ramones.

Zwei Stücke der Väter der abgewetzten Lederjacke, von denen in den letzten zwölf Monaten gleich zwei den Löffel abgaben, standen auf dem Programm, der selbstkomponierte Rest erfüllte die Erfordernisse locker. Zwei Dutzend Songs, an deren Titeln schön zu sehen ist, worum es am Samstag ging: „Dig The Fuzz“, „Small Town Fever“, „Fan Shirt“ oder „New Girlfriend“ – eins wie das andere eine nach allen Regeln der Kunst gefasste kleine Perle. Das und vielleicht noch ein paar Bier und man konnte versöhnt mit der Nacht neue Abenteuer suchen.

Vor 15 Jahren


… angekündigt, aber leider verpasst – übrigens alle drei immer noch am Leben:

taz Bremen 18.7.1998

Awopbopaloobo!! (Der Platz reichte nicht für -palopbamboom)

 Am Sonntag: Chuck Berry, Little Richard, Jerry Lee Lewis in der Stadthalle

Und die Rolling Stones sollen alte Säcke sein? Was sind dann erst diese drei Vögel, die, wie irgendwo zu lesen war, zusammengerechnet eine halbe Ewigkeit alt sind? Zusammengerechnet sind sie überdies auch noch wichtiger als der, den sie König des Rock’n’Roll nennen, denn was hat der eigentlich geleistet, außer sich mit den Songs anderer Leute dumm zu verdienen? Nicht zuletzt mit solchen von Little Richard und Chuck Berry.

Nicht, daß sich die Herren Berry, Richard und Lewis beklagen sollten. Immerhin leben sie noch, und das wahrscheinlich alles andere als schlecht. Chuck Berry, immer noch im Entengang unterwegs, wenn der Song es verlangt, ist sogar noch so gut beisammen, daß er kürzlich seinen Körper, umkränzt von einigen deutlich jüngeren und unbekleideten Damen, für ein Hochglanzmagazin entblößte, ohne dabei die metaphorischen Hosen runterzulassen.

Auch Jerry Lee Lewis scheint auch noch recht agil, deutet dies allerdings eher dezent durch mannigfache Eheschließungen an. Daß die Verflossenen zum Großteil nicht mehr unter den Lebenden weilen, war übrigens immer wieder Anlaß zu wüsten Spekulationen. Der Mann nannte sich ‚Killer‘ …

Und Little Richard, nach wie vor das alte Großmaul, erzählt immer noch bei jeder sich bietenden Gelegenheit, er sei der „Architekt des Rock’n’Roll“.

Zusammengerechnet ergeben diese drei Typen zum mindesten brennende Klaviere, das meistzitierte Gitarrenriff aller Zeiten und Awopbopaloobopalopbamboom.

Vor zehn Jahren


besprach ich für den BREMER unter anderem folgende Schönheiten:

guided by voices /earthquake glue

matador /beggars group /zomba

Nach einem musikalisch nicht wahnsinnig ergiebigen Abstecher zur Plattenindustrie kehrte Rob Pollard, der Mann, der seit Jahren mit wechselnder Begleitung Guided By Voices ist, zu Matador und zwar nicht völlig zu alter Form zurück, fasst aber seine heutzutage nicht mehr ganz so kurzen, jedoch nach wie vor formvollendeten Songs, in denen sich Beatles, The Who und Sebadoh einen schönen Tag wünschen, wieder in sorgfältig ungeschliffene Arrangements. Immerhin 15 Perlen sind hier aneinandergereiht, halben Wegs zwischen Hi- und LoFi, und zumindest einige von ihnen gehören zu den ganz großen GBV-Songs, was bei dem mittlerweile unüberschaubaren Gesamtwerk der letzten 20 Jahren eine Menge ist. Um den Rest dürfen ihn immer noch die meisten Songwriter dieser Welt beneiden. Pollards Stimme klingt übrigens auch hier nach einem spekulativen Peter Gabriel, der Genesis verließ, weil ihn die Prägnanz von Punk eines besseren belehrte.

giardini di miró /punk … not diet!

2nd rec /hausmusik /indigo

Mythen in Tüten: Giardini di Miró fühlten sich bislang gründlich als Postrock-Formation missverstanden und ihre Musik auf den bisherigen Alben nur ungenügend aufgezeichnet. „Punk … Not Diet!“ räumt mit beidem auf. Gesang als weiteres Instrument steht nun im Zentrum der Kompositionen, die mittlerweile deutlich Song-Charakter haben, wenn auch mit einem Instrumentarium gespielt werden, das an führende Postrock-Formationen erinnert: Streicher, Mellotron, Elektronik und Bläser ergänzen die Rockbesetzung. Heraus kommt nichts weniger als elegischer, schwelgerischer Pop. So viel zum Missverständnis. Zum anderen sei gesagt, dass Giardini di Miró diesmal offensichtlich endlich ausgiebig Zeit im Studio hatten. Die Arrangements gerieten facettenreich wie nie, zwischen schwül und luftig, die Kompositionen bekamen endlich den Raum, den sie fraglos benötigen. Das bisher reifste Album der Italiener.

glenn branca /the ascension

acute /hausmusik

Nach einer CD von Glenn Brancas Theoretical Girls folgt nun die zweite Geschichtstunde von Acute Records: „The Ascension“ erschien zuerst 1981. In der Rückschau prominentestes Mitglied der Besetzung war Lee Ranaldo, der später das bei Branca Erlernte mit dem ebenfalls bei jenem in die Schule gegangenen Thurston Moore bei Sonic Youth umsetzte. „The Ascension“ markiert Brancas Übergang von „Rock“ hin zu dem, was hier in Ermangelung eines besseren Begriffes „ernste“ Musik genannt werden soll und zeigt nicht zuletzt, wie groß Brancas Einfluss – auch über den Umweg Sonic Youth – auf den Gitarrenuntergrund der Achtziger war. Dass diese minimalistisch-majestätische Musik für vier Gitarren in offenen Stimmungen, Bass und Schlagzeug – in einer Live-Situation erregender und aufwühlender geklungen haben dürfte, ist nicht nur dem zeitlichen Abstand geschuldet. Lee Ranaldo vermerkt in den Liner Notes, etwas habe ihm bei diesen Aufnahmen stets gefehlt: Raum-Ton. Ungeachtet dessen ist dieses Album ein wertvolles und aufschlussreiches Dokument.

mondo generator /a drug problem that never existed

ipecac /efa

Queens Of The Stone Age veröffentlichten im letzten Jahr eines der größten Rock-Alben der letzten Jahre – mindestens. In gebührendem Abstand legt ihr Bassist Nick Oliveri nun das zweite Album seines Nebenprojekts Mondo Generator nach. Wie schon auf dessen Vorgänger „Cocaine Rodeo“ lässt Olivieri nichts anbrennen. Mit notorischen Begleitern wie dem Ex-Kyuss-Schlagzeuger Brant Bjork, Earthlings?-Gitarrist Dave Catching und seinen QOTSA-Kollegen aufgenommen, bündelt „A Drug Problem…“ Oliveris Einflüsse – rüder Punk, sinistrer Folk und schwerer Rock – zu einem wüsten Party-Spaß. Typisch: Auch wenn Nick Oliveri hier ganz offenhörig die musikalische Ägide übernommen hat, ist „A Drug Problem…“ kein Ego-Trip. Diese Wüste(n)-Rock-Familie ist ein Kollektiv individueller Stimmen. Josh Hommes Gitarre klingt unverwechselbar, Mark Lanegan raunt eindrucksvoll wie immer. Schöne Idee übrigens: Die Werbung für kommende Veröffentlichungen aus der Familie am Ende der CD mit kurzen Anspielern.

cake kitchen /how can you be so blind?

hausmusik /indigo

Wer den Film „Sonnenallee“ gesehen hat, erinnert sich vielleicht an den Eröffnungssong, gesungen von Graeme Jefferies. Michael Heilrath (Couch, Blond) war gleich so hin und weg, dass er Jefferies ins Studio lud, ein paar Freunden Bescheid sagte, deren bekanntester Markus Acher (The Notwist) war, und setzte Graemes Folk-Songs mit ein paar erlesenen Streicher-Arrangements und Rockband an. Schon der erste Song, „You Know I Really Like Your Style“, windet sich so unwiderstehlich ins Hirn, dass der Rest beinahe egal wäre, gäbe es darunter nicht noch etliche mehr dieser wunderschönen Songs, von Jefferies mit seltsam sonor-verschlafener Stimme gesungen. Wer auf erstklassiges Songwriting in delikaten Arrangements aus ist, sollte hier schleunigst reinhören.

 

 

the magic band /back to the front (atp recordings /zomba) 17 Klassiker von „Moonlight On Vermont“ über „I Wanna Find A Woman Who Will Hold My Big Toe Till I Have To Go“ bis „Sun Zoom Spark“. John French, Gary Lucas, Denny Walley und Mark Boston waren nie gleichzeitig in Captain Beefhearts Magic Band. Aber natürlich sind sie wie niemand sonst in der Lage, diese großartige Musik zu spielen.

pink anvil /helloween party (ipecac /efa) Paul Barker und Max Brody vergnügen sich im Hauptberuf bei den Industrialisten von Ministry. Als Pink Anvil führten sie 2001 auf einer Halloween-Party in Austin diese Suite aus düsteren Klangschaften auf, Brian Eno, Steroid Maximus und die rocklosen Elemente von Fantomas in Hörweite. Verblüffend unterhaltsam.