Alle Jahre wieder…


… treffen sich Skateboard-Fans im Juli am Schlachthof (dieses Jahr am 7.7.)  – das war schon vor zehn Jahren so:

taz Bremen 28.6.2002

Herrgott am Skateboard

Rollen-Rebellion: Am Samstag treffen sich alte und neue Skater beim Festival Endless Grind – die Musik kommt nicht nur vom Plattenteller

Eine jede Kunst hat ihre Epochen, durchläuft Frühphasen, erreicht einen Zenith, der später für gewöhnlich Klassik genannt wird, verliert an Bedeutung und wird vielleicht später neu entdeckt und umgeformt.

Natürlich ist es auch beim Skateboard-Fahren so. In den frühen Siebzigern entwickelt, weil leidenschaftliche Surfer auch ohne Meer, Wellen und Wind ihrem Sport frönen wollten, weshalb sie sich Rollen unter die Surfbretter schraubten. Daraus entwickelte sich das Skateboard mit seiner eigenen Fahrweise, eigenen Tricks und einem entsprechenden Lifestyle.

Dass Skaten in Ermangelung anderer Orte nicht selten an solchen stattfinden musste, wo es eigentlich verboten war, verlieh dieser Forbewegungsart den Hauch der Rebellion, der in den Achtzigern so herrlich zu schnellem, rebellischem Punkrock und Hardcore sowie wenig später auch zum radikalen Flügel des Speedmetal passte – und umgekehrt. Suicidal Tendencies sangen „Possessed To Skate“, die Spermbirds zogen nach mit „My God Rides A Skateboard“. Das war die Blütezeit des Skatens, die Klassik also, auf die beim Endless Grind Bezug genommen wird.

Jedes Jahr treffen sich dort Leute, in deren Jugend Rollerblades noch Rollerskates oder Rollschuhe hießen. Sie haben Bretter dabei, die heute gar nicht mehr gebaut werden, mit „Nose“ und „Tail“ – also mit richtig vorn und hinten -, und wahrscheinlich kommt auch wieder der sympathische ältere Herr mit dem Longboard vorbei, und es wird sein Punkrock und Sonnenschein (so der Gott mit dem Skateboard, wenn es denn doch einen geben sollte, will).

Um der musikalischen Vielfalt Genüge zu tun, ist zusätzlich zur Musik vom Plattenteller auch noch eine Band gebucht, die der Thrash-Legende Slayer ein Denkmal setzt: „Hanns-Martin Slayer“, die sich aus Ehemaligen norddeutschen Hardcore-Bands wie Feedback Recycling, Hypocritical Society, Harmonizer, Mutant Gods und anderen zusammensetzen.

Auch für Nicht-Skater eine feine Sache, umsonst und außerdem auch noch draußen.

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Vor zehn Jahren


Heute beginnt es wieder – vor zehn Jahren war es so in Scheeßel (gefunden auf Youtube):

bzw. so wie von mir veschrieben in der

taz Bremen 24.6.2002

Hurricane-Schlammschlachten

Großartig: Nass und laut, matschig und chaotisch bürokratisch: Das Hurricane-Festival in Scheeßel. Auf die Schlammwiesen kamen insgesamt 50.000 Zuschauer und an Bands, alles was Rang und Namen hatte

Sie wollen einen Bericht? Sie kriegen einen, so verdammt exklusiv, wie es jeder wäre, denn in den extremen Verhältnissen eines Open Air Festivals – Anarchie auf den Parkplätzen und straffste Verhältnisse hinter der Bühne – gibt es für ein jedes jene unvergesslichen Momente. Sie müssen ja nicht unbedingt schön sein, diese Momente.

Zielloses Irren über Felder, auf denen in Schlammpfützen Menschen mit seligem Lächeln schlummern, zwischen Containern hin und her geschickt werden, in denen es Bändchen für Tickets gibt oder andersherum – wichtig ist, zuerst am richtigen Container anzuklopfen, weil man nicht mal eben fragen kann, ob man hier richtig ist, denn dann sagen die anderen in der Schlange, man wolle sich vordrängen (was in der Tat eben das ist, was man am liebsten tun würde). Irgendwo steht am Container aber wirklich immer präzise, was es gibt und was nicht. Und man lernt: Wer genau hinschaut, hat es leichter auf so einem Festival.

Der Regen hatte schon früh begonnen, dem diesjährigen Hurricane den Boden unter den Füßen wegzuziehen, was allerdings, das weiß man spätestens seit Woodstock, mit einem Festival als Ganzes und solches gar nicht geht. Der Wille, sich zu amüsieren, ist stärker. Wie Karneval, da geht man ja auch nicht wegen ein paar Schlammlawinen gleich nach Hause, um dann wieder ein Jahr zu warten, bis man wieder lustig sein darf.

Die Musik steigt dabei zur allerschönsten Nebensache der Welt auf. Die Bedingungen für ihren Konsum sind oft -sagen wir – problematisch, die Sichtverhältnisse notwendig limitiert bei einem Festival mit 50.000 Zuschauern, für die es diesmal auch eine Leinwand gab, auf dem auch die weiter hinten Stehenden sehen konnten, wie Nelly Furtado, Fettes Brot, Ärzte und Red Hot Chilli Peppers über die Bühne hüpften, und auch, wie New Order nach einigem Zögern doch noch kamen und gegen den Regen spielten und grimmige Witze darüber machten. Und über Fußball. Alte Hits von Joy Division, neue und alte von New Order, überraschend gitarrig-rockig.

Wer danach heim wollte und sein Auto auf den umliegenden Weiden abgestellt hatte, musste nicht nur lange durch den Regen gehen, sondern auch noch sein Auto anschieben (lassen), bis hoch auf die Straße, um hernach – schlammbesudelt – in den Sitz sinken zu können und loszufahren (wenn einem nicht gerade ein Mitfahrer abhanden gekommen war, aber das ist eine andere Geschichte).

Zurück zum Festival, zurück zur Musik, zu den Menschen. Jeder und jede kann hier ein Star werden. Ein junger Mann fesselte sein Publikum von spontanem Genie beseelt mit gewagten Sprüngen in eine besonders schöne und tiefe Schlammpfütze, und man durfte sich auch mit ihm photographieren lassen. Oder etwas essen, aus der weiten Welt des schnellen Futters, von Pizza bis Chop Suey, von einem Viertelmeter Bratwurst bis zur „Mantaplatte“, bestehend aus – richtig geraten – Currywurst und Pommes mit Ketchup und Mayo.

Später ist auf den Toiletten zu sehen, wohin diese ausgewogene Diät kommt, aber bitte, niemand hat es anders gewollt. Niemand kann sagen, er hätte von nichts gewusst. Und es wäre auch dreist zu behaupten, man habe nicht mit Regen rechnen können! Zwischen Bremen und Hamburg – im Juni – machen Sie sich nicht lächerlich!

Garbage spielten die Ramones. „I Just Wanna Have Something To Do“ – alright, und da war es noch eitel Durchwachsensein, mit Sonne zwischendrin. War es das, was der Black Rebel Motorcycle Club meinte, als er seine Vereinshymne sang: „Whatever Happened To My Punkrocksong“? Die Breeders – in letzter Zeit vor allem durch desolate Interviews aufgefallen – wurden mit Spannung erwartet und sorgten für Gesprächsstoff. Und es war voll im Zelt, als sie spielten, was bestimmt nicht mit dem nun für den Rest der Nacht einsetzenden Regen zu tun hatte.

Nicht dass die Spannung nun durch etwas besonders Schlimmes oder Großartiges aufgelöst worden wäre. Eher gab es zwei reizend angeschickerte große Damen des Alternative Rock, unterstützt von einer Hardcore-Band, der man ihre Vergangenheit nicht anhörte. Und dann New Order, die neben trockenen Witzen noch Baader-Meinhof grüßten. Am Sonntag dann noch einmal ganz großes Kino -Ärzte, Red Hot Chilli Peppers, Sie wissen schon, was ich meine. Nächstes Jahr sehen wir uns dort. Garantiert.

Vor zehn Jahren


… schickte mich der BREMER ein paar mal für delikate Geschichten los:

Das Ende einer Legende?

Bremens ältester Strich soll ein neues Gesicht bekommen – mindestens

Seit fast 125 Jahren gibt es sie schon: Die Helenenstraße im Steintorviertel. Generationen von Männern vergnügten sich hier, Generationen von Huren verdienten hier unter sich wandelnden Umständen ihren Lebensunterhalt. (Alle anderen) Frauen und Kinder mussten (fast immer) draußen bleiben. Seit vergangenem Jahr rumort es wieder einmal um die Helenenstraße. Ein Architekt hat große Pläne mit der Straße. Und stößt dabei auf eine komplizierte Interessenkonstellation.

 

Damals…

„Für die in der Stadt Bremen unter sittenpolizeiliche Kontrolle gestellten Frauenzimmer werden unter Bezugnahme auf § 361,6 des Strafgesetzbuches zur Sicherung der Gesundheit, der öffentlichen Ordnung und des öffentlichen Anstandes folgende Verordnungen entlassen:

§ 1.

Den unter Kontrolle gestellten Frauenzimmern ist verboten:

a. auf der Straße oder an sonstigen öffentlichen Orten oder in öffentlichen Lokalen, insbesondere auch durch Verweilen vor ihren Wohnungen oder vor der Wohnung einer anderen Prostituierten, in den Haustüren, den Veranden oder Vorgärten sich auffällig bemerkbar zu machen und Männer durch Worte, Winke, Zeichen oder andere Kundgebungen anzulocken;

(…)

h. die hiesigen Theater, Museen, Kunst- Gewerbe- und dergleichen Ausstellungen, Zirkusvorstellungen, Schaubuden und dergleichen Schaustellungen, Tanz-, Konzert- und sonstige Vergnügungslokale, Krankenanstalten, sowie Maskenbälle ohne besondere Erlaubnis zu besuchen, (…)

l. in ihren Wohnungen Vorräte von Bier aufzubewahren, die über den täglichen Bedarf, der auf höchstens 5 kleine Flaschen festgesetzt wird, hinausgehen; an sie besuchende Männer Wein, Bier oder Spirituosen zu verabreichen, sowie ferner Waren und sonstige Gegenstände nach 9 Uhr abends sich holen oder bringen zu lassen;

(…)

q. den Bürgerpark oder die Wallanlagen zu betreten (…).

Bremen, den 9. April 1912.

Die Polizeidirektion.“

 

Das waren noch Zeiten, als es Vater Staat sich angelegen sein ließ, Prostituierte derart humorlos unter seine Knute zu bringen! Die Einsicht in die Unmöglichkeit zu verbieten, was nicht sein durfte, einerseits, die durchgesetzte Moral, dass Sex wenn schon nicht in die Familie, dann doch in eine Partnerschaft und nicht in die Sphäre des Geschäfts gehört, andererseits. Der Widerspruch zwischen der normativen Kraft des Faktischen und der für gut erachteten Sitte als gesellschaftlicher Norm besteht trotz des seit 1. Januar 2002 geltenden neuen Gesetzes zur Verbesserung der Lage von Prostituierten, gemäß dem das angeblich älteste Gewerbe der Welt u.a. nicht mehr als sittenwidrig beurteilt wird und auch die „Förderung der Prostitution“ keinen Straftatbestand mehr darstellt. Es ist die Verlaufsform, die sich von Zeit zu Zeit ändert.

1878 war die Helenenstraße ein Modell, das Schule machte. Der Prostitution wurde hier erstmals in Deutschland ein Ort eingerichtet, der einerseits die staatliche Kontrolle des Gewerbes erleichterte, andererseits aber auch für Frauen und Freier gewisse Vorteile mit sich brachte. In der Helenenstraße gab es ein Badehaus und ordentliche Toiletten (beides zu jener Zeit auch in normalen Wohnhäusern kein Standard), Zuhälterei war verboten, wenn ein Freier verschwinden wollte, ohne zu zahlen, lief er dem am Eingang postierten Polizisten direkt in die Arme, die Mieten waren erschwinglich, regelmäßig kam ein Arzt in die Straße und untersuchte die Frauen. Die Freier wiederum konnten relativ sicher sein, sich keine Geschlechtskrankheiten zu holen. Experten kamen damals aus aller Welt, um die Helenenstraße zu begutachten. Und als Modell – aus Holz – reiste sie ihrerseite nach New York, Paris und Moskau, um auf Gesundheitsmessen vorgestellt zu werden.

In den 20er Jahren des 20.Jahrunderts geriet die Helenenstraße zunehmend in die Kritik, nicht zuletzt seitens der Frauenbewegung. 1927 beschließt der Senat, der Prostitution in der Helenstraße einen Riegel vorzuschieben. Die Straße heißt nun Frankenstraße, und Prostitution ist in ihr verboten. Die Nazis machen schließlich die Entscheidung rückgängig: 1933 genehmigten sie das horizontale Gewerbe wieder, 1936 gaben sie der Straße ihren alten Namen zurück.

 

… und heute

Auch wenn es immer wieder Initiativen gab, die Prostitution aus dem Viertel – abgesehen von der Helenenstraße Sperrgebiet – zu verdrängen, sieht es erst seit wenigen Jahren danach aus, als käme nun Bewegung in die Sache. Seit die Bremer Tagespresse über den angeblichen Niedergang der Helenenstraße berichtete, wird diskutiert, was aus dem mitten im Steintor gelegenen Areal zu machen sein könnte. Wo in Hochzeiten wie in den 50er und 60er Jahren über 100 Frauen ihrem Gewerbe nachgingen, sind es heute ungefähr 40 bis 50, die sich keineswegs erfreut über die Anteilnahme der Öffentlichkeit zeigen. Mit ihnen ins Gespräch zu kommen, erweist sich so als äußerst kompliziert. Für die Frauen aus der Helene wirken sich Schlagzeilen wie „Tote Hose“, „Rotlicht aus“ oder „Kein Verkehr in der Helenenstraße“ geschäftsschädigend aus.

Angesichts der Leerstände im Steintorviertel sucht der Beirat Östliuche Vorstadt derzeit nach Wegen, das Viertel attraktiver für Investoren zu machen. Die Helenenstraße nimmt in diesen Überlegungen – nach der vorsichtigen Öffnung für neue Gastronomie – einen im doppelten Sinn zentralen Raum ein. Erstens gibt es keine zweite Fläche im Steintor, die soviel Raum für Entwicklung bietet, und zweitens liegt sie mittendrin, in direkter Nachbarschaft des Ziegenmarkts, der bekanntlich auch immer wieder zum Gegenstand entsprechender Überlegungen wird, sei es, dass Gastwirte gern Alkoholiker und Bettler vertreiben würden, sei es, dass jemand über die Einrichtung eines Cafés auf dem Dach des dortigen Supermarktes nachdenkt.

Der Architekturstudent Sven Lux (30) zählte eins und eins zusammen. Bei der Suche nach einem Thema für seine Diplomarbeit stieß er auf das Thema Helenenstraße und entwickelte ein Konzept, dass den verschiedenen Interessen gerecht werden sollte.

In einer öffentlichen Veranstaltung stellt Lux im April in der Schauburg sein Modell vor. Anwesend neben Ortsamtsleiter Robert Bücking sind außerdem Gabriele Lau vom Hurenselbsthilfeverein Nitribitt, ein Hausbesitzer aus der Helenenstraße, Beiratsvertreter, Gastronomen, Kaufleute und rund 80 Bürger und Bürgerinnen.

Nachdem Auszüge eines Radio-Features des Journalisten Charly Kowalczyk vorgespielt wurden, in dem die Geschichte der Straße aufgerollt wurde und auch Huren und Freier zu Wort kamen, erläutert Lux sein Modell, für das er bereits mit einem Preis des BDB – Bund Deutscher Baumeister, Architekten und Ingenieure geehrt wurde.

 

Das Konzept

Sven Lux berichtet im Gespräch mit dem BREMER: „Ich hatte keinen Auftrag. Es war meine eigene Idee. Ich wollte ein aktuelles Thema für mein Diplom und bin durch die Zeitung darauf gestoßen.“ Wichtig sei ihm gewesen, „dass die Frauen wie bisher selbstverwaltet arbeiten können. Ich weiß nicht, ob das umzusetzen ist, aber das ist die Idee. Angeblich gibt es auch anderswo selbstverwaltete Bordelle.“ Die Prostitution soll also erhalten werden, aber nun in einem Bordell, das den (dann:) Helenenplatz dominiert. Wo jetzt die alte Bretterwand den Eingang zur Straße optisch abschließt und am Ende der Straße soll abgerissen, die Straße so zum Ziegenmarkt und zum Mecklenburger Platz hin geöffnet und zu einem zentralen Platz im Quartier werden. Neben dem Bordell, auf dem Plan „Lé Sofa“ geheißen und entsprechend gestaltet, stellt sich der Architekt ein Backpackers Hotel („Im Steintor gibt es derzeit überhaupt kein Hotel.“) vor, außerdem Gastronomie, Geschäfte, Wohnungen. Und nicht zuletzt Foyers für das Moments und das Veranstaltungszentrum in der Grundstraße. Unter dem Platz sollen schließlich 100 Parkplätze geschaffen werden.

Ein Stadtteilzentrum mit Puff also? „Die Anwohner scheinen damit weniger Probleme haben, da herrscht eher die Befürchtung vor, dass es laut werden könnte“, erklärt Robert Bücking. Und Lux ergänzt: „In Hamburg oder Amsterdam funktioniert das wunderbar, und wenn es in Bremen irgendwo geht, dann hier“.

Obwohl der Rotlichtbezirk in Amsterdam mit seiner Fensterprostitution nicht gerade ein beliebtes Ziel für Familienausflüge ist…

„Sowas ist in Bremen nicht vorstellbar“, räumt Lux ein. „Deswegen habe ich ein großes Gebäude mit Atrium entworfen. Die Fassade zeigt schon, dass es etwas Besonderes ist. Aber es gibt keinen direkten Einblick von außen. So wollen wir das Modell in eine neue Form transferieren.“

 

Bedenken

Kaum gab es Überlegungen, den Status Quo aufzuheben, regte sich bei den betroffenen Frauen Unmut. Klar: Die meisten von ihnen arbeiten seit Jahren, einige seit Jahrzehnten hier. Robert Bücking hat Verständnis für die Skepsis: „Die Straße verkörpert aus ihrer Geschichte heraus immer noch ein soziales Modell. Prostitution ist wohl nirgendwo ein idyllischer Beruf. Trotzdem liegen Welten dazwischen, ob eine Frau von einem Zuhälter zur Prostitution oder bestimmten Praktiken gezwungen wird und Geld abgeben muss, oder ob sie weitgehend selbst entscheiden kann. In der Helenenstraße zahlen die Frauen wenig Miete, und selbst wenn sie nicht mehr so viele Freier finden, kommen sie noch über die Runden. Außerdem gibt es niemanden, der sie antreibt. Insofern ist das gewissermaßen ein selbstverwalteter Puff. Leute wie Sven und ich, die hier das Wort ergreifen, denken, dass das etwas wert ist. Gerade angesichts dessen, was in Modelwohnungen passiert, muss man überlegen, wie man von dem Modell Helenenstraße etwas zukunftsfähig machen kann. Weil gleichzeitig auch klar ist: Wenn man das einfach dahin sterben lässt, geht das auch kaputt.“

Die Frauen sehen das etwas anders. „Anders als in anderen Großstädten sind hier Frauen unter sich, es passieren keine kriminellen Dinge wie sonst häufig im Rotlichtmilieu, es gibt hier keine Zuhälterei, die Nachbarn beklagen sich nicht, die Polizei kann hier durchgehen, ohne dass wir uns daran stören. Es gibt keinen Menschenhandel, hier arbeitet keine Frau unfreiwillig. Warum läßt man uns hier nicht in Ruhe leben und arbeiten?“, fragt eine der Frauen in Kowalchyks Feature.

„Am besten sollte wieder ein Sexshop hin“, sagt eine andere, „das Ding fehlt, da müsste kein Café hin, da müsste ein Sexshop hin, so wie es auf Jahre gewesen war, warum das jetzt weg ist, wat weiß ich. In anderen Städten war es ja auch so, dass Sexshops neben den Bordells sind. Das hat Kundschaft angezogen, die sind dann auch anschließend noch hier her gegangen oder umgekehrt. Erst da rein, dann hier. Und haben sich den Rest geholt…Stimmt doch…(Gelächter)“.

Eine ihrer Kolleginnen weist auf die Vorzüge gegenüber vergleichbaren Einrichtungen hin: „Wir können auch das anbieten, was auch in Clubs angeboten wird. Champagner, Kaviar – vielleicht übertreib ich jetzt – aber so was in der Richtung, also man kann mit uns essen, trinken, sprechen, so wie auch im Club. Wir sitzen einzeln in unserem Bereich, das ist für die Kunden vielleicht angenehmer, da kommen nicht gleich 20 Mädchen auf ein Gast angestürmt. Er hat Zeit, in Ruhe kann er sich entscheiden, wen er möchte und dann kann er schöne Dinge erleben, er kann von uns richtig verwöhnt werden.“

Gabriele Lau von Nitribitt weist darauf hin, dass die Frauen auch selbst versuchen, ihre Straße mit bescheidenen Mitteln attraktiver zu gestalten. „Die Frauen haben ihre Fenster geschmückt. Eine hat sogar gegen die Feuchtigkeit eine zweite Mauer in ihrer Butze hochgezogen.“ Es wäre im Sinne der Frauen, die Straße dem Wesen nach zu lassen, wie sie ist, aber sie aufzupeppen. Der schmuddelige Eingangsbereich wirkt schließlich nicht eben einladend. Und die Frauen sind bereit, zu investieren – „weil ihnen die Straße auch am Herzen liegt“, sagt Lau. „Dort arbeiten noch 40 Frauen, auch junge“, betont sie. Die Straße liegt ihnen nicht zuletzt wegen der Arbeitsbedingungen am Herzen, die sie dort nach wie vor haben. Hier können sie bei schönem Wetter an der Sonne sitzen, sie haben Platz, sie müssen sich nicht verstecken. Außerdem: „In einem normalen Bordell reglementiert der Betreiber die Arbeit der Frauen. Sie müssen ihre Kleenex-Tücher und Kondome bei ihm kaufen – für das Dreifache des Ladenpreises“, erklärt Lau. Um aber Einfluss auf das nehmen zu können, was mit der Helene passiert, müssten sich die Frauen an den Überlegungen beteiligen, meinen die Frauen von Nitribitt: „Denn noch ist das Konzept nicht fertig.“

Dass sich etwas ändern wird, scheint jedenfalls ausgemachte Sache.

 

Die Aussichten

Robert Bücking begründet seine Initiative als notwendige Reaktion auf die veränderten Bedingungen – nicht nur in der Helenenstraße: „Offensichtlich verlieren die klassischen Prostitutionsstraßen aus dem 19. Jahrhundert an Zulauf, das Geschäft verlagert sich zunehmend in die Wohnungsprostitution. Und es gibt keine Anzeichen dafür, dass diese Tendenz sich umkehren würde. Das bedeutet für die Helenenstraße, dass immer weniger Frauen arbeiten und immer weniger Freier kommen. Die fünf Neubauten aus den 80ern auf der rechten Seite stehen überwiegend leer. Die so genannten Butzen auf der linken Seite sind nur noch teilweise belegt.“

Aber auch die Situation im Steintor mit seinen Leerständen ist in diesem Zusammenhang wichtig: „Wir müssen Verhältnisse schaffen, die das Quartier für neue Investoren attraktiv machen. Und die Helenenstraße ist das einzige größere Areal, das unternutzt ist. Deswegen ist es jetzt angemessen, diese Debatte vom Zaun zu brechen. Bei der Podiumsdiskussion war zu sehen, dass so etwas unglaubliche Ängste hervorruft. Ein Gruppe von Bürgern, die am Rande dieses Gebiets wohnen, sagen: Wenn ihr das macht, dann ist die Ruhe dahin, da ist ja immer halligalli! Damit muss man sich auseinandersetzen. Die Prostituierten mit denen wir gesprochen habe, sagen: Lasst uns in Ruhe, macht eine Werbekampagne, aber lasst uns in unseren Butzen. Dieser Entwurf ist nichts für uns, da hocken wir zu eng zusammen, sind in einer zu starken Konkurrenz. Die Kaufleute sagen: Prima, wenn ihr da was macht, sind wir dabei. Diese Einzelinteressen muss man ernst nehmen und in eine Reihenfolge bringen. Dann gibt es auch noch die Hausbesitzer in der Helenenstraße selbst. Die sagen: Da muss sich dringend was ändern, weil die Häuser ständig an Wert verlieren. Da können wir nicht ein Einzelinteresse aufgreifen und sagen: So machen wir das. Wir müssen eine tragfähige Idee entwickeln, die das Quartier stützt und ihm einen Impuls gibt, den es wirklich braucht.“

So weitergehen wie bisher kann es seiner Ansicht nach schlichtweg nicht: „Entweder gelingt es uns, ein gutes Konzept energisch zu vertreten, dann hätten wir Einfluss auf die Entwicklung, oder wir tun das nicht; dann darf man nicht denken, dass sich nicht auch etwas verändert. Nur ist dann die Frage, was es ist, und ob es besser ist.“

Er ist sich sicher, dass die Straße über kurz oder lang „über Kopf“ geht, wenn nichts unternommen wird. „In einer Stadt gibt es keine weißen Flecken. Irgendwas etabliert sich immer. Und in diesem Fall muss man damit rechnen, dass eines Tages jemand ein richtig fieses Eros-Center hochzieht oder sich mafiöse Strukturen etablieren – Sachen, die wir nicht wollen. Ich glaube, dass der richtige Zeitpunkt da ist, sich Gedanken zu machen.“ Sowohl Robert Bücking als auch Sven Lux legen dabei Wert auf die Feststellung: „Wir wollen den Frauen nicht das Geschäft kaputt machen, das sind nach wie vor ganz tolle Frauen.“

Ob das Konzept von Sven Lux gerade unter dem zentralen Aspekt des „selbstverwalteten Bordells“ tragfähig ist, weiß indes niemand so recht. Ob nicht etwa bei einer Umgestaltung der Helenenstraße doch die Moral im Gewand des wirtschaftlichen Sachzwangs – oder umgekehrt – siegt…

Dass die Stadt Bremen als Garant für den Erhalt der Arbeitsbedingungen in der Helenenstraße fungieren könnte, hält Robert Bückiung jedenfalls für illusorisch. Und die betroffenen Frauen dürften mit Recht schwarzsehen, falls sie in einer neuen Helenenstraße keinen Platz finden sollten, denn woanders werden sie kaum mit solchen Arbeitsbedingungen rechnen können – trotz des neuen Gesetzes zur Prostitution.

Eigentümer, Beirat, die Belegschaft der Helenenstraße und die Steintor-Bürger werden sich in irgendeiner Form einigen müssen. Der Hurenselbsthilfeverein Nitribitt ist dafür, die Helenenstraße als „Bremisches Kulturgut“ zu erhalten. Die Frauen aus der Helenenstraße wollen, dass es so bleibt. Geschäftsleute sind bislang noch am ehesten für ein Modell „á la Lux“ zu haben. Ohne die Eigentümer geht allerdings nichts.

Robert Bücking erklärt lakonisch: „Wir haben bekanntlich kein sonderlich ausgeprägtes Enteignungsrecht, also muss man jetzt Interessen wecken, kombinieren. Das kann dauern. Vielleicht vier, fünf jahre. Aber vielleicht bildet sich eine Gruppe unter den Eigentümern, die sagt: Unser Häuser verlieren an Wert, da müssen wir was tun. Dafür werben wir jetzt auch, dass sich Leute finden, die sich engagieren.“

Wer sich in welcher Form – und nicht zuletzt mit welchen Mitteln – engagiert, wird ein entscheidender Faktor für die Zukunft dieser urbremischen Institution sein.

 

Nachbemerkung: Die Helenenstraße ist heute immer noch die alte, soweit ich das von außen beurteilen kann…

Vor fünf Jahren


taz Nord 18.6.2007

Musik für 15 Euro

Aus der Not einen Anreiz gemacht: Um ihr Album produzieren zu können, hat die Bremer Jazzband „Das Wilde Fest“ sich Paten gesucht – mit einigem Erfolg. Als nächstes soll das Single-Abonnement kommen

Dirk Paliga arbeitet in der Wirtschaft. Allerdings in einer, an der einem alten Witz zufolge kein Musiker vorbeigeht. Eines Abends machte ihm dort der Stammgast Ralf Benesch ein Angebot, dass Paliga nicht ablehnen konnte. Benesch ist Musiker und war auf der Suche nach Paten für seine Profession. Oder genauer: nach Menschen, die die Patenschaft für das neue Album seiner Band „Das Wilde Fest“ übernehmen.

„Wir kennen uns schon länger und ich verfolge, was Ralf macht“, sagt Paliga. „Als er mit der Idee kam, hab ich sofort ja gesagt. Ich finde es gut, dass man teilhaben kann; nicht einfach stumpf eine Platte zu kaufen, sondern involviert zu sein. Ich habe dann die Patenschaft für ein Stück übernommen.“ Wofür er Geld und Namen hergibt, das weiß der Pate „ansatzweise“: Er habe sich die Stücke angeguckt, erzählt Paliga. Auf ihrer Internetseite hatte „Das Wilde Fest“ kurze Beschreibungen der Stücke und die Partituren hinterlegt. „Ich habe früher Klavier gelernt und konnte mir zumindest die Tenorsaxofonstimme vorspielen“, so Paliga. „Dann hab ich mir ein Stück rausgesucht, das zu mir passt.“ Sein Titel: „Herr Ober“. Laut Ralf Benesch der absolute Favorit der Paten. „Alles Gastronomen“, sagt der Mittvierziger lachend.

Ob man für ein paar Takte, ein ganzes Stück, einzelne Musiker oder gleich die ganze Band eine Patenschaft übernehmen wollte, machte dabei keinen Unterschied, jedenfalls nicht finanziell: Zum Einheitspreis von 15 Euro bekamen die Paten die CD „Run!“ nach Fertigstellung zugeschickt und fanden im Booklet ihren Namen wieder. Für zehn investierte Euro mehr gab es zusätzlich freien Eintritt für das Release-Konzert in Bremen. „Das ganze soll ein Spaß sein“, sagt Benesch. „Ein kleines Spiel, um einen Anreiz zu geben.“

Aber das Spiel hat natürlich einen ernsten Hintergrund: Jazz wird von der öffentlichen Hand nur noch marginal gefördert, und bis auf wenige Superstars kann kein Jazzmusiker von seinen Plattenverkäufen leben. Da sei die Idee mit der Patenschaft „schon aus der Not geboren“, sagt Benesch, der bei „Das Wilde Fest“ Saxofon und Gitarre spielt sowie singt. Zuerst habe er an an Gutscheine gedacht, „aber das fand ich langweilig“. Auch Aktien waren im Gespräch, „aber Aktie ist ein scheißkapitalistischer Begriff, das haben wir sofort verneint“. Ein Freund hatte dann die Idee mit der Patenschaft.

Und immerhin: Bis zur Drucklegung des CD-Booklets waren rund 1.000 Euro zusammengekommen – ein Viertel der Produktionskosten. „Manche Leute haben auch mehr gegeben“, weiß Benesch. „Einer sogar 125 Euro.“ Sein nächstes Projekt ist übrigens eine monatliche Reihe von CD-Singles, die ab Oktober abonniert werden können. Um Ideen ist er wirklich nicht verlegen.