Eigentlich wollte ich Carla Kihlstedt treffen, als ich im September für drei Wochen in der Bay Area war, um über das anstehende Music Unlimited zu reden, etwas zu erfahren über die besonderen und allgemeinen Umstände des Musikerlebens in San Francisco, über die Vereinbarkeit „esoterischer“ Free-Improv-Welten mit Prog-Rock, den auch Metaller gutfinden können, über Willie Nelson und Van Halen – was aber nicht ging, weil sie just am Tag meiner Ankunft für genau die Zeit verreiste, die ich blieb. Weshalb wir uns später telefonisch unterhielten, Carla Kihlstedt zwischen einem Berg von Projekten, teils mit dem Festival verbunden, dass sie letztes Jahr kuratierte, teils mit neuen Alben, die die produktive Violinistin und Sängerin aufgenommen hatte. Mir begegnete sie zuerst bei Tin Hat Trio, ein Folk-Klez-Jazz-Kammermusikensemble, mittlerweile nur noch Tin Hat, außerdem spielte sie in früheren Inkarnationen von Charming Hostess (wieder die Vaccination-Connection) und gründete Sleepytime Gorilla Museum mit. Außerdem betreibt sie die Band 2 Foot Yard, Book Of Knots und spielt mit der Creme der Avantgarde. So war sie bei der Einspielung von „Electric Ascension“ involviert, erst kürzlich erschien ein Album mit Improvisationen, die sie mit der japanischen Pianistin Satoko Fujii einspielte. Eine unglaubliche Musikerin, soviel steht fest. Womit bist du gerade beschäftigt?
Carla Kihlstedt: Willst du das wirklich wissen? Ich versuche viel Geld aufzutreiben, schreibe Anträge für ein Projekt und ich arbeite an den letzten Grafiksachen für die neue 2-Foot-Yard-Platte, die morgen früh ins Presswerk muss, und ich versuche alles für die Sleepytime-Tour zusammenzubekommen und noch eine Million anderer Dinge, die ich zeitgleich tun muss.
Ihr geht also auf eine komplette Tournee mit Sleepytime.
Alles ist schon nach Europa verschifft.
Ihr scheint eine Menge Dinge zu brauchen für eure Konzerte.
Wir haben viele selbstgebaute Instrumente, so dass die Clubs sie uns nicht zur Verfügung stellen können.
Ich warte schon so lange darauf, euch zu sehen.
Wir haben es ein parmal versucht. Jetzt kommen wir zum zweiten Mal, und es ist finanziell kaum machbar, vielleicht kommen wir plus minus Null raus, was fantastisch wäre, aber wir werden nicht mit Geld herauskommen. Es ist ein bisschen unhandlich. Ich wünschte, wir könnten einfach unsere Instrumente auf den Rücken packen und uns ins Flugzeug setzen, um rüberzukommen. Aber bei uns muss alles etwas schwieriger sein.
Reden wir über das Unlimited. Ich war in den letzten Jahren dabei, du hast dort auch gespielt. Deswegen haben sie dich wahrscheinlich eingeladen.
Ich denke ja. Ich war drei Jahre in Folge da, und ich war dort mit sehr unterschiedlichen Projekten. Ich war dort mit 2 Foot Yard und Tin Hat, habe mit Fred Frith improvisiert und mit Satoko Fujii, was eine andere Art zu improvisieren ist. Ich habe die „Kafka-Songs“ (von Lisa Bielawa) gemacht. Ich denke, weil ich meine Finger in sehr unterschiedlichen Arten von Musik habe, dachten sie, dass das gut wäre…
Auf deiner Homepage ist ein Zitat von dir: „Musik ist ein wirklich sicherer und spaßiger Ort, um alle Möglichkeiten emotionaler Extreme zu erforschen, sowohl für mich als Performerin, als auch für das Publikum. Musik ist ein Medium, wo du tatsächlich nach dem Song fühlst, dass du auf eine Art kleine Reise gegangen bist. Es ist ein Ort, wo Menschen die Extreme von Emotionen erforschen könne, die in manch anderem Medium vielleicht gefährlicher sind.“ Wenn man so ein Festival kuratiert… Das Music Unlimited ist ja schon eine Art Jazz-Festival…
Eine Art, aber ich denke, das Tolle an diesem Festival im Unterschied zu anderen Jazz-Festivals in Europa ist, dass sie es „Music Unlimited“ nennen und es wirklich meinen. Es hat keine ästhetischen Leitlinien hinsichtlich dessen, was sie angemessen finden oder was sie ihrem Publikum zumuten. Als Teil des Publikums habe ich Dinge gesehen, die völlig sanft und melodisch waren und ich habe absoluten Krach gehört. Und ich habe alles dazwischen gesehen. Und es scheint, dass sie ein Publikum entwickelt haben, das bereit ist, in all diese Extreme zu gehen und bereit für die unterschiedlichsten Sachen ist. Das sagte Wolfgang als wir anfingen, uns darüber zu unterhalten. Er sagte, wir versuchen wirklich, kein Jazz-Festival oder nur ein Improvisationsfestival zu sein – sie wollen nicht einsortiert werden. Deswegen haben sie ein wirklich interessantes Publikum entwickelt, das genau deswegen nach Wels kommt, nicht, weil es eine bestimmte Sache sehen will. Und ich denke, das trifft auf viele Jazz-Festivals nicht zu.
Ich stimme dir da zu und denke auch, dass die interessantesten Dinge im Jazz außerhalb des Jazz stattfinden.
Ich sollte eine Art Essay einschicken für das Programmheft. Und einer der zentralen Punkte ist, dass diese Begriffe dir nicht helfen, Musik zu hören. Sie helfen nur, Musik zu verkaufen. Sie helfen dir nicht als echtem, gegenwärtigem Hörer. Und Musik hat mehr mit Hören zu tun als mit Bezeichnung.
Deine Künstlerauswahl hat einen starken Fokus auf der Bay Area…
Das kam einfach so. Ich hätte auch gern ein Festival gehabt, das nicht so sehr amerikanisch ist, aber es ist schwierig, weil man damit beginnen muss, was einem am nächsten ist. Es ist viel hin und her, weil viele Leute, die ich gern eingeladen hätte und die nicht Amerikaner sind, keine Zeit hatten. Es ist also eine Mischung aus meiner Wunschliste und Logistik. Jetzt ist es schon stark auf die Bay Area konzentriert, weil meine Verbindungen hier so stark sind.
Ich bin ja sehr froh darüber, weil ich auf diese Weise endlich Sleepytime Gorilla Museum, Faun Fables und die Molecules, die sich vor zehn Jahren aufgelöst haben, zu sehen bekomme.
Genau, ich wollte auch Leute einladen, die normalerweise nicht in so einem Kontext spielen. Weniger offensichtliche Musiker, denen ich die Gelegenheit geben wollte. Es war wirklich hart, ein Dreitagefestival zu buchen. Es wäre viel einfacher gewesen, einen Monat zu buchen. Drei Tage sind wirklich nicht viel. Deswegen musste ich ein paar Entscheidungen treffen, die für mich unbequem waren.
Ich denke, dass die Szene in der Bay Area eine Herangehensweise teilt, die sich von Chicago, New York oder Berlin unterscheidet – so wie diese Szenen ihre Eigenheiten entwickelt haben.
Ich denke nicht, aber ich weiß nicht genau, was du meinst. Wenn ich vergleiche, wie Faun Fables, Ben Goldberg, Larry Ochs und Sleepytime Gorilla Museum komponieren und spielen, dann sind das völlig unterschiedliche Herangehensweisen. Ich sehe nicht wirklich einen einheitlichen Ansatz im Programm. Dann ist da Wu Fei, eine chinesische Gu-Zheng-Spielerin, dann ist da Lisa Bielawa. Es ist ein ziemlich weites Spektrum von Konzepten und Musik. Ich bin nicht sicher, wie ich das beantworten kann.
Ich denke, es gibt in der Bay Area vielleicht andere Traditionen, weniger Scheu vor Van Halen…
Hahahaha…
Viele Musiker, die ich dort kennen gelernt habe, hatten da einen sehr entspannten Umgang mit verschiedenen Musikstilen, keine Hierarchien.
Ich kann das einfach nicht. Ich kann einfach keine Hierarchien entwickeln und an sie glauben. Ich denke, dass Hierarchien meistens auferlegte Strukturen sind, die wir benutzen, um zu rechtfertigen, was wir denken. Und für mich ist das kein Weg zu existieren. Und es gibt einige Improvisatoren hier in der Bay Area – ich nenne keine Namen -, für die freie Improvisation die einzig akzeptable Weise ist, Musik zu machen. Und es gab sogar Leute, die mich im Internet Verräter genannt haben, weil ich nicht nur improvisierte Musik spiele sondern auch Klassik spiele und Songs schreibe und singe. Ich glaube einfach nicht daran. Ich kann nicht hinter so einer Haltung stehen. Es ist so traurig, es schneidet dich von so vielen verschiedenen Perspektiven ab. Jede Art von Musik hat so viel zu bieten. Einen perfekten Pop-Song zu schreiben, ist so schwer. Wenn du einen perfekten Pop-Song hörst, ist das eine unglaublich befriedigende Erfahrung auf eine Weise, die es sonst nicht gibt. Und dann gibt es fantastische Improvisatoren wie Fred Frith und es ist die erstaunlichste spontane Komposition, die du je gehört hast. Dann wieder etwas zu hören, was eine sehr rigorose Struktur hat, wie manches von den Secret Chiefs 3, ist ebenfalls eine sehr kraftvolle Sache. Ich könnte nie guten Gewissens einen ganzen Ansatz von Musik abschreiben. Innerhalb jedes vorhandenen Ansatzes gibt es Leute, die es wirklich ernsthaft betreiben, und andere, die einfach eine Struktur ausfüllen. Ich glaube eher an intuitive Urteile über Musik.
Wie ist deine Verbindung zu Carla Bozulich?
Wir haben oft zusammen gespielt, es gibt ein Live-Album, auf dem ich spiele, ich war mit auf Tour in ihrer Band. Ich glaube, das erste Mal, das wir zusammen gespielt haben, war eine Tour ihrer Band mit 2 Foot Yard und seitdem bewundern wir uns gegenseitig. Ich bin ein großer Fan von ihr.
Und ihr seid beide große Fans von Willie Nelson.
Ja, genau.
Und ihr habt ihn beide auf Platten (auf „Red Headed Stranger“ von Carla Bozulich ist er ebenso zu hören wie auf „The Rodeo Eroded“ von Tin Hat Trio).
Vor ein paar Monaten habe ich mit ihm gespielt, auf einer Hochzeit. Ich stand auf der Bühne neben ihm und das war so so toll… Er ist ein Held von mir. Es gibt eine Menge Country Musik, die ich mir nicht anhören kann, aber dann hörst du Willie Nelson und es ist so transzendent, seine Phrasierung als Sänger und Gitarrist ist so tief und so rein und schön – absolut transzendente Musik. Es geht nicht um die Art von Musik, die er spielt, sondern um die Haltung und den Geist, den er entwickelt hat. Du kannst Menschen nicht nach der Musik beurteilen, die sie spielen.
Er hat sogar eine Reggae-Platte aufgenommen.
Ich hab ein bisschen Angst davor, hahaha…