Die Sache mit David Copperfield
Vor einer Weile deutete ich einmal an, es gebe da eine Geschichte, in der eine Frau in einen Imbiss kommt und fragt, ob David Copperfield hier schon einmal gegessen habe. Ich weiß nicht mehr, ob ich sie noch zusammenkriege, aber es war in ungefähr so:
Mittwochabend, kurz vor elf. Die verblichene Hauptstraße des Quartiers, auf der ich auf der Suche gewesen nach Mauerstücke, an denen ich ein paar Flugzettel anschlagen konnte, lag nun leer und wartete auf den Regen. Nur ein einsamer ehemaliger Funktionär der österreichischen KP, der über der Aussichtslosigkeit seiner Funktion verzweifelt war, sammelte Zigarettenstumpen und stapelte sie zu kleinen Häufchen auf. Mit meiner Kameradin, ich werde sie der Einfachheit halber G. nennen, war ich nach getaner Arbeit in eine Wirtschaft gegangen, benannt nach einem orientalischen Märchenhelden, um uns zu verschnaufen. Wir hatten unseren Auftrag erfüllt und guter Dinge. Wir warteten noch auf unser Essen warteten, da betrat eine Frau den Imbiss, ungefähr dreißig Jahre alt, mit langen blonden Haaren. Sie sah weder in die eine noch die andere Richtung auffällig aus, nur ihr Blick fiel mir auf, ohne dass ich hätte sagen können warum. Ein paar Minuten steht sie einfach nur in der Gegend herum, blickt nach draußen, lässt ihren Blick über die bunten Bilder von irgendeiner Heimat an den Wänden streichen, über die Auslagen, um schließlich auf dem unverdrossenen Mann hinter dem Tresen zu verweilen.
Sie scheint sich ein Herz nehmen zu müssen, denn es ist eine kleine Pause, bevor sie fragt:
„Hat David Copperfield hier schonmal gegessen?“
Einfach so.
Der Mann weiß nicht recht, was sagen, und so versuche ich mein Glück.
„Nicht, dass ich wüsste, aber sie werden es nicht glauben, ich kehrte einst mit Claudia Schiffer hier ein.“
Weil G. mir droht, den Spaß zu verderben, knuffe ich sie derb in die Seite. Die Unbekannte stört sich allerdings nicht im mindesten an G.s Unhöflichkeit, schaut mich nur verwundert an.
„Aber die sind doch verlobt…“
Dies als Einwand gelten zu lassen, sehe ich nicht ein.
„Er durfte natürlich nichts davon wissen“, sage ich in geduldigem Ton.
Sie wird dennoch skeptisch, runzelt die Stirn, fragt nach etwa zweieinhalb Sekunden:
„Du spinnst ja, – oder stimmt das?“
Ich scheine vertrauenswürdig, zumindest ein wenig. G. wendet sich einer Lektüre zu, die sie aus dem Ständer an der Wand genommen hat, irgendeine Zeitschrift über Frisuren. An dem leisen Zucken ihrer Hände kann ich erkennen, dass ihre Aufmerksamkeit dennoch der Unterhaltung gilt, die sich alsbald weiter entspinnt.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragt die Blonde, die sich eine Zigarette angezündet hat und mittlerweile geneigt scheint, mich nicht in Bausch und Bogen zu verdammen.
„Horst.“
„Mein Vater heißt auch Horst“, entgegnet sie, und ich habe kurz die Befürchtung, dass sie nun das Spiel nach ihren Regeln spielen möchte. Woher soll ich wissen, ob ihr Vater wirklich Horst heißt?
„Mein Vater wohnt über mir“, fährt sie fort, „weil meine Wohnung verstrahlt ist.“
„Ärgerlich“, vermute ich.
Sie will gerade etwas sagen, da fährt draußen eine Trambahn vorbei und ihre Worte gehen im Getöse unter. Von ihrem Satz bleiben nur die Worte Büchergestell und verheiratet heil, wobei selbst das nicht als gesichert gelten darf. Ich weiß nicht, was sie mir sagen will, ich weiß nicht einmal, ob sie überhaupt mir etwas sagen will. Sie schaut mich aus Augen mit einem Blick an, der von ganz weit fort durch einen Nebel zu mir kommt und behauptet:
„Du tickst wohl nicht mehr ganz richtig.“
Spricht es und geht aus der Tür durch die nächste in die Bar nebenan, wo sie vielleicht dasselbe wissen will, ob nämlich vielleicht David Copperfield dortselbst schon einmal gewesen sei.
Ich lasse mir einen Mokka geben und denke an Claudia und den Abend mit ihr. Wie sie die ganze Zeit jammerte.
„Wenn uns mein Verlobter sieht… Er wird mich windelweich prügeln… Oh,. es geht nicht, dass wir hier so beisammen sitzen… Jeden Moment könnte er durch die Wand kommen… Lass uns lieber gehen…“, in einer Tour. Es war ganz furchtbar, wie ihr euch vorstellen könnt. Ich versuchte, sie zu beruhigen, ob sich nicht übertreibe, ob sie wirklich meine, er könne durch die Wand gehen, Geschwindigkeit sei schließlich keine Hexerei – obwohl ich nur zu gut wusste, wozu dieser eifersüchtige Schnösel in der Lage war. Windelweich prügeln, das konnte schon sein. Sie jedenfalls beharrte auf ihrer Sicht der Dinge, auch wenn sie die Lage offenbar so prickelnd fand, dass sie sich nicht vom Fleck rührte.
Als eine Stimme polterte: „Du Schlampe“, versteckte sie sich unter dem Tisch. Allerdings war es nur Lagerfeld, der sich hier einen seiner derberen Späße erlaubte. Er nickte einigen Gästen grüßend zu, mir jedoch nicht, weil er aus purer Eitelkeit, wie ich annahm, seine Brille nicht trug.
„Gehen wir noch auf einen Drink zu dir?“, fragte ich Claudia, weil mir die Sache auf die Nerven ging, aber sie schüttelte entschlossen den Kopf.
„Das geht auf keinen Fall, mein Vater wohnt über mir, er könnte uns hören.“
„Ich vermute, dass seine Wohnung verstrahlt ist“, sagte ich gelangweilt, worauf sich Verblüffung in ihrem Gesicht breitmachte, wie Olivenöl in einer Pfanne über dem Feuer.
„Aber… woher… das kann doch gar nicht… niemand weiß…“
In diesem Moment kommt G. durch die Tür und fragt, ob wir langsam weiterziehen wollten.
„Klar“, sage ich, stehe auf und lege mich lang hin, über einen Tisch, auf dem gerade ein Betrunkener die Schlacht von Verdun auf einer Papierserviette schematisch darzustellen versucht, was ihm sehr zu seinem Unmut nun misslingt, weil Claudia, als sie sich unter dem Tisch versteckt hat, ohne mein Wissen die Schnürbänder meiner Turnschuhe an ein Tischbein geknotet hat. Claudia biegt sich vor Lachen, bis sie eine gelangt kriegt.
„Hallo David!“, begrüße ich den eifersüchtigen Schnösel trotz meiner unglücklichen Lage mit der sich in dieser Situation geziemenden Höflichkeit. „Was machst du denn hier?“
„Hallo Horst“, begrüßt mich der eifersüchtige Schnösel ebenfalls höflich – immerhin, Manieren hat er, auch wenn ein höhnischer Zug um seine Lippen zu spielen scheint, aber das kann auch daran liegen, dass ich immer noch auf dem Schlachtfeld von Verdun liege. „Ich schaue ein wenig nach dem Rechten. Weißt du, Claudia ist manchmal ein bisschen…“, und zieht die Schultern hoch und macht einen Gesichtsausdruck, als sei ihm schon wieder der Trick mit der Praktikantin und einer Zigarre danebengegangen, der, wo er sich danach wieder eine neue suchen muss, weil die alte den Trick nicht verstanden hat.
„Verstehe, verstehe. Aber sag mal, bevor du gehst, könntest du…“ – ich zeige erklärend auf meine Schnürbänder.
Zu spät indes, er ist schon wieder fort. Durch die Wand – der alte Teufelskerl -, wobei sich Claudia, unsanft am Handgelenk hinter dem Meister her gezogen, noch die Nase lädiert, weil sie den Trick nicht verstanden hat. Ich löste meine Schnürbänder und ging zurück auf die Straße, wo gerade ein Minister mit dem Fahrrad Pirouetten auf dem Hinterrad vollführt, während sich die aufgehende Sonne im Dekolleté einer Diva verhedderte, aber das glaubt mir ohnehin wieder niemand, und außerdem ist es eine ganz andere Geschichte.