Vor zehn Jahren im TRUST besprochen:


LOUIE AUSTEN – ‚Only Tonight‘

Der alte Schwerenöter stellte sein halb gefülltes Vodkaglas ab und grunzte in sich hinein. Dass ausgerechnet der schon einigermaßen faltig dreinblickende Typ aus dem Boxverein hier in dieser Bar den Sinatra machte, erschien ihm irgendwie verdächtig. Dazu diese seltsame Musik – nannte man das nicht Techno? War der Typ nicht viel zu alt für diesen neumodischen Kram? Aber er hatte schon eine gewisse Grandezza, und immerhin: eigentlich war die Musik zu derlei Songs, Chansons, Schlagern, wie man das auch immer nennen wollte, das spielte gar keine Rolle, schon zu jederzeit dem aktuellen Geschmack angepasst worden, gerade so behutsam, dass niemand verschreckt würde, aber auch immer so auf Vordermann gebracht, dass man an der Bar nicht einschlief oder so. Und wie sagten die alten Meister: „It’s the singer, not the song.“ Diese alten SchlaWiener, kicherte er in sich hinein. Und überhaupt: Hatte Dylan nicht über Sinatra so etwas ähnliches gesagt wie, in seiner Stimme liege Wahrheit über die Dinge, was sich ja nun bestimmt nicht darauf bezogen haben konnte, was der Mann nun im Einzelnen gesungen hatte. „I Get My Kicks Out Of You“ zum Beispiel, wo Sinatra davon singt, dass er weder von Koks noch von Alkohol seine gute Laune beziehe, sondern allein von der angesungenen Person. Ausgerechnet Sinatra. Und der Typ hier, dieser Louie Austen, da war es doch nun wirklich auch nicht die Frage, ob er wirklich jeden Morgen seinem Gespons gegenüber mit der Mine des Frischverliebten auftritt. Entertainment, alte Schule – der pure Eskapismus, und vor allem hier im Las Vegas-Anzug. Dann kam auf einmal Peaches auf die Bühne, um mit dem Alten „Grab My Shaft!“ zu singen. Der zotige Austen…

Er bestellte sich noch einen Drink. Hier ließ es sich aushalten.

Kitty-Yo/EFA

 

 

NAM JUNE PAIK – ‚Works 1958.1979‘

Der Video-Großkünstler und sein musikalisches Werk. Nur um kurz etwas anschaulich zu machen, die folgende Anekdote von einer Performance Paiks in Anwesenheit unter anderem Karlheinz Stockhausens, des Mannes also, der sich neulich schwerst in die Nesseln setzte, weil er meinte, der Anschlag auf das WTC sei ein Kunstwerk so groß, dass nicht nur er als Künstler danach einpacken könne.

„Paik played some Chopin on the piano, broke off, weeping, and got up and threw himself on the innards of another eviscerated piano that lay scattered on the floor, then picked up a wickedly long pair of scissors and leaped down to where (John) Cage, the pianist David Tudor and Karlheinz Stockhausen were sitting in the front row. He removed Cage’s suit jacket and started to slash away at his shirt with the scissors. After doing so, he poured a bottle of shampoo over Cage’s head and also over David Tudor’s. (As Stockhausen edged nervously away, Paik shouted ‚Not for you!‘)“, berichtet Calvin Tomkins im Mai 1975.

Hieran ist zu sehen, wie zum einen ein Element des Unberechenbaren, Gefährlichen, sonst durchweg auch dem frühen Punk oder dem ebensolchen Hardcore zugeschrieben, in der sog. Hochkultur nicht unbekannt ist, wie zum anderen eben das Schockierende gleich einem Novelty-Gag sich verbraucht und für einen akademischen Zugang zu allerlei Kunst vom sine qua non zum Verhinderungsgrund wird, weshalb bspw. „Punk“ eben nach kurzer Zeit – wie alles andere – zumindest temporär für irrelevant erklärt wird. (Und andersherum: Man lese die Intro-Titelgeschichte eines Menschen, der noch vor kurzem die nachträgliche Auflösung Fugazis nach „Repeater“ wg. Irrelevanz gefordert hat.)

Paiks musikalische Werke sind jedenfalls hier erstmalig in Aufnahmen erhältlich. Lediglich ein Stück gab es bereits einmal vor Ewigkeiten in limitierter, längst vergriffener Auflage. Neben improvisiertem Pianospiel gibt es Collagen (Hommage á John Cage; Simple), in denen Paik schon Ende der 50er mit einer frühen Form von Sampling spielt.

Sub Rosa/EFA

 

 

MASTODON – ‚Lifeblood‘

Was treibt Steve Austin wohl jetzt, nachdem ihn – wieder mal – seine Mitmusiker verlassen haben und Today Is The Day – wieder mal – Austin allein zu sein scheint? Brann Dailor und Bill Kelliher, an Schlagzeug resp. statt Bass nun an der Gitarre zuletzt auf TITDs „In The Eyes Of God“ zu hören, scheinen sich weniger aus musikalischen Gründen von Austin getrennt zu haben. Zwar klingen sie ohne den, dafür mit zwei Musikern von Social Infestation an Bass und Gitarre deutlich anders, vor allem weniger kaputt, halten aber weiterhin an Deathmetal als Material fest (wobei es übrigens und allerdings durchaus denkbar und reizvoll wäre, wenn sich eine mögliche nächste TITD-Version wieder an Rock orientierte), zerlegen und konterkarieren ihn, bis er sich aufzulösen beginnt. Vor allem Brann Dailor füllt den Takt bisweilen zu einer Dichte auf, die den Rhythmus in mehrere Richtungen gleichzeitig zu führen scheint. Die Gitarrensounds sind analog dazu weniger dem kompakten Metal-Sound verpflichtet, als dass sie an den Rändern ausfransen, in den Höhen hysterisch zerbersten.

Am ehesten nach den Regeln ist noch der Gesang, der nur selten seinen zorngeschwellten Duktus gegen etwas dem Rest adäquat anderes eintauscht. Aber das ist nun wirklich ein kleinlicher Einwand.

Relapse / SPV

 

 

CAMPER VAN CHADBOURNE – ‚Psychadelidoowop‘

RUBE WADDELL – ‚Bound For The Gates Of Hell‘ & ‚Hobo Train‘

Väter…

Protestsong, das heißt bei Leuten wie Eugene Chadbourne immer auch Jazz, selbst wo der ganz ohne Worte auskommt. Hier spielt der verrückte Doktor mit den beiden Ex-Campern Segel und Krummenacher „Milestones“ von Miles Davis in gemischter Besetzung aus Bluegrass und Psychedelic. Außerdem: „Knock On The Door“ von Phil Ochs, „Wiggles The Worm“ von Funkadelic und weiteres zwischen Folk, Rock und freier Improvisation, angereichert mit einem Füllhorn komischer Instrumente und obskurer Samples vietnamesischer Frösche, buddhistischer Nonnen sowie anderer Merkwürdigkeiten.

…Und Söhne

Protestsong, das heißt bei Leuten wie denen von Rube Waddell (benannt nach einem legendären Baseball-Spieler, der meist betrunken spielte, wenn er nicht während des Matchs das Feld verließ, um Feuerwehrzügen hinterherzulaufen) auch immer Arbeiterlied, selbst wo sich dieses eines dezidierten Kommentars enthält. So überrascht es nur auf den ersten Blick, dass sie in der Vergangenheit schon die Beethoven/Schiller-Kollaboration „Ode an die Freude“ auf Deutsch liebevoll zurumpelten, und schon gar nicht, dass sie auch auf Brecht einst ein Auge geworfen haben. Eine Tradition, die, wenn überhaupt eine, im Grunde Blues ist, sei es nun der des weißen oder des schwarzen Mannes, egal wo der eine oder andere herkommen mag. Javanesische Melodien, mexikanische Trompeten und ein Blues im engeren Sinne, der Jon Spencer wie eine Lusche klingen lässt.

„Hobo Train“ ist die Wiederveröffentlichung einer vergriffenen EP, nun um Aufnahmen von einem Konzert auf der MS Stubnitz in Rostock ergänzt. Hier dann eben Brecht, ein Wiener Walzer mit Fake-Ösi-Akzent, nassforsch im Fundus hamsternd, polyglott und mit vorwärts abspielbaren satanischen Botschaften.

RW: Vaccination/Flight 13

CVC: Magnetic/Swamp Room Recordings

 

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War einmal ein Revoluzzer…


Tobias Kratzer entdeckt den Aufständischen Wagner

„Tannhäuser“ – das fängt in Bremen ganz unwagnerisch an. In einer Bankfiliale um die Ecke, bevor sich die Türen für das Publikum öffnen, ist eine Reinemachefrau dabei, alles für den Arbeitstag herzurichten. Zu den Klängen der Ouvertüre, deren beschwingtere Teile die Dame zu einem kleinen Tänzchen mit dem Mop animieren. Damit ist aber Schluss, als der Chef kommt, mit strenger Miene zurecht rückt, was sie im Übermut übersah. Die Angestellten kommen, die Kunden – ein hübsches Panorama des Alltags, mit Witz angerichtet. Dann passiert es: Ein Banküberfall. Drei ulkig verkleidete Terroristen hängen ein Transparent auf: „Frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen! R.W.“ Wagner also. Und bevor man auf eine Spaßguerilla schließen könnte, nehmen sie die Bank aus, ein Sondereinsatzkommando stürmt die Bank, der, der sich später als Tannhäuser entpuppt, erschießt im Tumult unsere freundliche Reinemachefrau – ab.

Im ersten Akt klärt sich manches auf: Wer Tannhäuser ist, wer die anderen Clowns sind, einer dazuerfunden, damit eine Terrorzelle draus wird, und Venus. Und der Ansatz von Regisseur Tobias Kratzer, der die Ouvertüre nutzt, um mit der kleinen Eingangsepisode eine Folie über den Stoff zu legen. Eine Geschichte von Rebellion und dem gesellschaftlichen Umgang damit, aber auch von der Position der Kultur in unserer Gesellschaft.

Venus und ihr Reich also eine revolutionäres Kommando, die andere Welt: das christliche Abendland, der freie Westen, der Kapitalismus, der in die letzten Ritzen der Existenz vorgedrungen ist. Tannhäuser ist unzufrieden, hängt Elisabeth, seiner Liebe nach und den Unvollkommenheiten der Welt, aus der er kam. Venus muss ihn ziehen lassen.

Im nächsten Bild treffen wir Tannhäuser am Bühneneingang eines Theaters. Die Concierge erkennt ihn auf einem Fahndungsfoto, lässt ihn aber nicht auffliegen – ihre Sympathien für den Rebellen Tannhäuser sind stärker. Das Theater nimmt ihn schließlich auf, er war ja einer der ihren, ein großer Sänger, deshalb bekommt er eine zweite Chance.

Seine Resozialisierung will indes nicht klappen, statt von keuscher Liebe singt er von Sinnlichkeit, er fliegt auf, soll nach Rom, Buße tun. Auch da hat er schlechte Karten. Er kehrt als gebrochener Mann zurück. Venus lockt, Elisabeth aber auch, die ihm verzeihen will, beide Frauen werden von der GSG 9 auf dem Bahnhof Bad Kleinen erschossen, eine Bande Clowns singt von Vergebung – ein Witz. Aber ein guter. Weil es doch schwer erträglich ist, sich über eine gefühlte halbe Stunde lang den rein vom Text her öden Schuld- und Sühne-Quälereien auszusetzen, die – das muss dann natürlich auch gesagt werden – gesanglich und musikalisch so ein Genuss sind wie die gesamte Aufführung. Was neben dem Ensemble auch an der musikalischen Leitung von Marcus Poschner liegt, der für diese Inszenierung zurück zu Wagners Vorstellungen nicht zuletzt vom Gesang wollte, die übrigens erstaunlich wenig mit dem zu tun haben, was so gemeinhin unter Wagner-Gesang verstanden wird.

Für letzteres wurde dann auch begeistert gejubelt, während die Regie ein äußerst gemischtes Echo erntete. Buh-Rufe, die wohl genau das schalten, was eigentlich ein gewitzter, angenehm gebrochener Blick auch auf den Revoluzzer Richard Wagner war. Der sich in der Revolution von 1948/49 engagierte und später relativ mühelos zu Volk und Antisemitismus fand.

Damit positioniert sich das Bremer Musiktheater nicht nur erfreulich mutig, sondern auch künstlerisch erfolgreich für die neue Saison.

www.theaterbremen.de

Foto: Jörg Landsberg

Vor zehn Jahren


Die Auwahl für den Bremer vom November 2011 (ich weiß, es ist erst September, aber Redaktionsrhythmen gehen anders:

 

HER SPACE HOLIDAY

Manic Expressive

WICHITA/EFA

Nach einem Remix-Album nun hier der zweite reguläre Langspieler von Marc Bianchi. Ein wenig scheint er sich von seinen Dämonen verabschiedet zu haben, ist der Ton hier doch um ein Leichtes optimistischer als auf dem Debüt „Home Is Where You Hang Yourself“. Trotz verstärkten Einsatzes von Elektronik ist „Manic Expressive“ eine Songwriter-Platte und klingt sogar organischer als „Home Is…“; wohl, weil Bianchi auf „Manic Expressive“ mit üppigen Streicher-Sounds arbeitet, die zwar synthetisch erzeugt sind, gleichwohl aber die elegischen Songs warm ausfüttern. Und auch wenn Bianchi gleich in der ersten Zeile dieser Platte singt, dass er den Verstand verliert, ist die Stimmung hier bisweilen wenn schon nicht euphorisch, dann zumindest hoffnungsvoll und entspannt.

Das Cover-Artwork stammt übrigens von Shynola, die auch für die Gestaltung von Radioheads „Amnesiac“ verantwortlich waren.

 

TOMAHAWK

Tomahawk

IPECAC/EFA

Mike Patton (auch bei Fantômas und Mr. Bungle tätig), Duane Denison (Ex-Jesus Lizard und Hansdampf in allen Gassen zwischen Chicago und Nashville), John Stanier (Ex-Helmet) und Kevin Rutmanis (Ex-Cows, jetzt Melvins) schrieben mit ihren Bands ein essenzielles Kapitel „in Rock“ ums andere. Jetzt haben sie zusammen gelegt. Überraschend, dass sie mit sinistrem Lächeln ein vordergründig beinahe glattes, nicht selten ganz offenherzig rockendes Etwas vorlegen.

Wie bei den späten Jesus Lizard lässt Denison elegante Riffs aneinander krachen und legt splitternde Jazzrock-Soli oder fiese Noise-Schlieren darüber. Patton singt wieder, mehr zumindest, als bei seinen anderen aktuellen Projekten, wispert, schreit und croont, derweil Stanier und Rutmanis satte Grooves in Perfektion unterlegen. Unwahrscheinlich bei Ansicht der Mittel die Annahme, es handele sich hier um eine Rockband völlig neuen Typs. Vielmehr wird von abgeklärter Warte aus mit analytischem Blick und die eigene musikalische Vergangenheit seziert.

 

WILLY SCHWARZ

Home – Songs Of Immigrants, Refugees And Exiles

CLEARSPOT/EFA

Leider ist die unbestreitbare Aktualität dieser Platte keine auf die Gegenwart beschränkt punktuelle. Wahlbremer Willy Schwarz, selbst ein Wanderer und in der Vergangenheit unter anderem in der Band von Tom Waits sowie als Gast auf dem letzten Album von Velvetone zu hören, widmet sich auf seinem zweiten Solo-Album dem Themenkreis der freiwilligen und unfreiwilligen Migration, erkundet mit viel Empathie die verschiedenen Aspekte des Fremdseins vor allem für das Individuum, Existenzkampf, Ausgrenzung und die Sehnsucht nach einem besseren Leben. Seine Band ist in Entsprechung dazu international besetzt und kennt musikalisch keine Grenzen. Zwischen Rock, Jazz und folkloristischen Spielweisen indischer, amerikanischer, afrikanischer und osteuropäischer Provenienz kreieren Schwarz und seine Band einen überraschend schlüssigen World-Folkrock.

 

CONSOLE: Live At Centre Pompidou (Payola A8/Code 05/Hausmusik) Die Band, die mit „14 Zero Zero“ die Chupa Chups-Werbung gerockt hat, kann auch anders. Im Pariser Centre Pompidou spielten sie einen Ambient-Set. Konstante: Die schlackenlose Verbindung aus analog und digital, die Console auch für Nicht-Elektroniker so attraktiv macht.