Bald in Deutschland auf Tour – Cursive


und wieder ein alter Text – die Ankündigung vom Konzert vor fünf Jahren in Bremen:

Perlen aus der Einöde

Cursive

Omaha, Nebraska ist eigentlich für wenig bekannt. Seit einigen Jahren ist das Städtchen im berüchtigten mittleren Westen der USA, wo es außer endlosen Feldern vor allem viel Einöde gibt, allerdings ein wichtiges Zentrum des Indie-Gedankens. Hier nahm Connor Oberst mit „Bright Eyes“ seine ersten Platten auf, bevor er nach New York zog, der Szene immer noch eng verbunden. „The Faint“, Maria Taylor (…), „Criteria“, „Broken Spindles“, „Azure Ray“ und viele andere haben hier ihre Heimat: Saddle Creek, das Label, das nach wie vor auch Obersts Platten veröffentlicht, bringt mit schöner Regelmäßigkeit Bands und Musiker heraus, die weniger stilistisch eng beisammen sind als vielmehr in einer Vielzahl von Bands ein weites Feld zwischen Wave und Singer-Songwriter-Stoff spielen und sich nicht selten in verschiedenen Bands wiedertreffen. Tim Kasher zum Beispiel spielt nicht nur in „The Good Life“, sondern auch bei „Cursive“ (…) Sie spielen eine Musik, die sich grob unter das unsägliche Label Emo-Core verklappen ließe, sind aber so gar nicht in einen Sack mit den einschlägigen Heulbojen zu stecken. Weit rauer, deswegen auch eigentlich weit emotionaler klingen ihre Songs, die vor Energie bisweilen zu bersten scheinen, aber auch vor sporadischen Cello-Einsätzen nicht zurückschrecken.

PS: Unbedingt mal Kashers Solo-Album anchecken!

Tour Dates:

http://www.cursivearmy.com/tour/

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Ganz hübsch eigentlich, was ich vor zehn Jahren mal so als Kolumne fürs TRUST aufschrieb


Die Sache mit David Copperfield

 

Vor einer Weile deutete ich einmal an, es gebe da eine Geschichte, in der eine Frau in einen Imbiss kommt und fragt, ob David Copperfield hier schon einmal gegessen habe. Ich weiß nicht mehr, ob ich sie noch zusammenkriege, aber es war in ungefähr so:

Mittwochabend, kurz vor elf. Die verblichene Hauptstraße des Quartiers, auf der ich auf der Suche gewesen nach Mauerstücke, an denen ich ein paar Flugzettel anschlagen konnte, lag nun leer und wartete auf den Regen. Nur ein einsamer ehemaliger Funktionär der österreichischen KP, der über der Aussichtslosigkeit seiner Funktion verzweifelt war, sammelte Zigarettenstumpen und stapelte sie zu kleinen Häufchen auf. Mit meiner Kameradin, ich werde sie der Einfachheit halber G. nennen, war ich nach getaner Arbeit in eine Wirtschaft gegangen, benannt nach einem orientalischen Märchenhelden, um uns zu verschnaufen. Wir hatten unseren Auftrag erfüllt und guter Dinge. Wir warteten noch auf unser Essen warteten, da betrat eine Frau den Imbiss, ungefähr dreißig Jahre alt, mit langen blonden Haaren. Sie sah weder in die eine noch die andere Richtung auffällig aus, nur ihr Blick fiel mir auf, ohne dass ich hätte sagen können warum. Ein paar Minuten steht sie einfach nur in der Gegend herum, blickt nach draußen, lässt ihren Blick über die bunten Bilder von irgendeiner Heimat an den Wänden streichen, über die Auslagen, um schließlich auf dem unverdrossenen Mann hinter dem Tresen zu verweilen.

Sie scheint sich ein Herz nehmen zu müssen, denn es ist eine kleine Pause, bevor sie fragt:

„Hat David Copperfield hier schonmal gegessen?“

Einfach so.

Der Mann weiß nicht recht, was sagen, und so versuche ich mein Glück.

„Nicht, dass ich wüsste, aber sie werden es nicht glauben, ich kehrte einst mit Claudia Schiffer hier ein.“

Weil G. mir droht, den Spaß zu verderben, knuffe ich sie derb in die Seite. Die Unbekannte stört sich allerdings nicht im mindesten an G.s Unhöflichkeit, schaut mich nur verwundert an.

„Aber die sind doch verlobt…“

Dies als Einwand gelten zu lassen, sehe ich nicht ein.

„Er durfte natürlich nichts davon wissen“, sage ich in geduldigem Ton.

Sie wird dennoch skeptisch, runzelt die Stirn, fragt nach etwa zweieinhalb Sekunden:

„Du spinnst ja, – oder stimmt das?“

Ich scheine vertrauenswürdig, zumindest ein wenig. G. wendet sich einer Lektüre zu, die sie aus dem Ständer an der Wand genommen hat, irgendeine Zeitschrift über Frisuren. An dem leisen Zucken ihrer Hände kann ich erkennen, dass ihre Aufmerksamkeit dennoch der Unterhaltung gilt, die sich alsbald weiter entspinnt.

„Wie heißt du eigentlich?“, fragt die Blonde, die sich eine Zigarette angezündet hat und mittlerweile geneigt scheint, mich nicht in Bausch und Bogen zu verdammen.

„Horst.“

„Mein Vater heißt auch Horst“, entgegnet sie, und ich habe kurz die Befürchtung, dass sie nun das Spiel nach ihren Regeln spielen möchte. Woher soll ich wissen, ob ihr Vater wirklich Horst heißt?

„Mein Vater wohnt über mir“, fährt sie fort, „weil meine Wohnung verstrahlt ist.“

„Ärgerlich“, vermute ich.

Sie will gerade etwas sagen, da fährt draußen eine Trambahn vorbei und ihre Worte gehen im Getöse unter. Von ihrem Satz bleiben nur die Worte Büchergestell und verheiratet heil, wobei selbst das nicht als gesichert gelten darf. Ich weiß nicht, was sie mir sagen will, ich weiß nicht einmal, ob sie überhaupt mir etwas sagen will. Sie schaut mich aus Augen mit einem Blick an, der von ganz weit fort durch einen Nebel zu mir kommt und behauptet:

„Du tickst wohl nicht mehr ganz richtig.“

Spricht es und geht aus der Tür durch die nächste in die Bar nebenan, wo sie vielleicht dasselbe wissen will, ob nämlich vielleicht David Copperfield dortselbst schon einmal gewesen sei.

Ich lasse mir einen Mokka geben und denke an Claudia und den Abend mit ihr. Wie sie die ganze Zeit jammerte.

„Wenn uns mein Verlobter sieht… Er wird mich windelweich prügeln… Oh,. es geht nicht, dass wir hier so beisammen sitzen… Jeden Moment könnte er durch die Wand kommen… Lass uns lieber gehen…“, in einer Tour. Es war ganz furchtbar, wie ihr euch vorstellen könnt. Ich versuchte, sie zu beruhigen, ob sich nicht übertreibe, ob sie wirklich meine, er könne durch die Wand gehen, Geschwindigkeit sei schließlich keine Hexerei – obwohl ich nur zu gut wusste, wozu dieser eifersüchtige Schnösel in der Lage war. Windelweich prügeln, das konnte schon sein. Sie jedenfalls beharrte auf ihrer Sicht der Dinge, auch wenn sie die Lage offenbar so prickelnd fand, dass sie sich nicht vom Fleck rührte.

Als eine Stimme polterte: „Du Schlampe“, versteckte sie sich unter dem Tisch. Allerdings war es nur Lagerfeld, der sich hier einen seiner derberen Späße erlaubte. Er nickte einigen Gästen grüßend zu, mir jedoch nicht, weil er aus purer Eitelkeit, wie ich annahm, seine Brille nicht trug.

„Gehen wir noch auf einen Drink zu dir?“, fragte ich Claudia, weil mir die Sache auf die Nerven ging, aber sie schüttelte entschlossen den Kopf.

„Das geht auf keinen Fall, mein Vater wohnt über mir, er könnte uns hören.“

„Ich vermute, dass seine Wohnung verstrahlt ist“, sagte ich gelangweilt, worauf sich Verblüffung in ihrem Gesicht breitmachte, wie Olivenöl in einer Pfanne über dem Feuer.

„Aber… woher… das kann doch gar nicht… niemand weiß…“

In diesem Moment kommt G. durch die Tür und fragt, ob wir langsam weiterziehen wollten.

„Klar“, sage ich, stehe auf und lege mich lang hin, über einen Tisch, auf dem gerade ein Betrunkener die Schlacht von Verdun auf einer Papierserviette schematisch darzustellen versucht, was ihm sehr zu seinem Unmut nun misslingt, weil Claudia, als sie sich unter dem Tisch versteckt hat, ohne mein Wissen die Schnürbänder meiner Turnschuhe an ein Tischbein geknotet hat. Claudia biegt sich vor Lachen, bis sie eine gelangt kriegt.

„Hallo David!“, begrüße ich den eifersüchtigen Schnösel trotz meiner unglücklichen Lage mit der sich in dieser Situation geziemenden Höflichkeit. „Was machst du denn hier?“

„Hallo Horst“, begrüßt mich der eifersüchtige Schnösel ebenfalls höflich – immerhin, Manieren hat er, auch wenn ein höhnischer Zug um seine Lippen zu spielen scheint, aber das kann auch daran liegen, dass ich immer noch auf dem Schlachtfeld von Verdun liege. „Ich schaue ein wenig nach dem Rechten. Weißt du, Claudia ist manchmal ein bisschen…“, und zieht die Schultern hoch und macht einen Gesichtsausdruck, als sei ihm schon wieder der Trick mit der Praktikantin und einer Zigarre danebengegangen, der, wo er sich danach wieder eine neue suchen muss, weil die alte den Trick nicht verstanden hat.

„Verstehe, verstehe. Aber sag mal, bevor du gehst, könntest du…“ – ich zeige erklärend auf meine Schnürbänder.

Zu spät indes, er ist schon wieder fort. Durch die Wand – der alte Teufelskerl -, wobei sich Claudia, unsanft am Handgelenk hinter dem Meister her gezogen, noch die Nase lädiert, weil sie den Trick nicht verstanden hat. Ich löste meine Schnürbänder und ging zurück auf die Straße, wo gerade ein Minister mit dem Fahrrad Pirouetten auf dem Hinterrad vollführt, während sich die aufgehende Sonne im Dekolleté einer Diva verhedderte, aber das glaubt mir ohnehin wieder niemand, und außerdem ist es eine ganz andere Geschichte.

 

Vor zehn Jahren


wählte ich folgende Werke für die Seite mit den Plattenbesprechungen im Bremer aus. Was wurde bloß aus Nought?

Nøught

Nøught

SHIFTY DISCO/EFA

Shifty Disco ist ein neues Label, dass sich ganz dem alten Independent-Gedanken verschrieben hat. Was immer den Machern gefällt, wird veröffentlicht, ob es sich verkauft oder nicht. Da finden sich dann Singer/Songwriter neben Pop-Bands im Geiste der Beatles, amerikanischer College-Pop neben abgefeimtem Glamrock.

Nøught klingen dann wieder ganz anders und nehmen eine Sonderstellung im stilvollen Programm ein. Mathematischer Rock trifft himmelstürmende Orchestrierungen, eine Klarinette verbreitet einen Hauch Jazz, mit Sitar, Bläsern und Streichern arrangierte, wunderschöne Melodien schrauben sich hysterisch in einen Taumel, mäandern zwischen der „klassischen“ Musik des frühen 20. Jahrhunderts und komplexeren Spielformen des Rock/Hardcore der späten Achtziger. Dass sie sich dabei, wie es u.a. auch zu jener Zeit zum guten Ton gehörte, so gar nicht um Genre-Grenzen kümmern, hat hier einen zeitgemäßen progressiven Instrumental-Rock mit hochfliegenden Ideen zur Folge, kühn in Konzept und Ausführung.

Und was daran noch besonders erfreut: „Nøught“ klingt bei alledem so dermaßen unterhaltsam, ist vor allem Rock, weit entfernt von musikalischem Akademismus. Band und Label dürften gleichermaßen als Hoffnungsträger gelten.

Kante

Zweilicht

KITTY-YO/EFA

Schwarz

Das Schloss

ANDROMEDA/EFA

Sie könnten kaum verschiedener sein: Kante, die Schöngeister aus Hamburg, eine Band, die man nicht hört, eher „rezipiert“, und Schwarz, eine New-Metal-Band aus Berlin, denen bei allem Pathos hörbar am Rocken als solchem gelegen ist. Sie werden hier gemeinsam gewürdigt, weil ihre jeweils aktuellen und zweiten Alben neben deutscher Lyrik noch etwas entscheidendes gemeinsam haben. Kante finden auf „Zweilicht“, lose von einem im Titel angedeuteten Konzept verbunden, zu einer erstaunlichen Üppigkeit, die so nach dem noch eher strengen Debüt „Zwischen den Orten“ nicht zu erwarten gewesen war. Vom Kammerorchester bis zu minimalistischer Elektronik wird das Instrumentarium erweitert, und die Stücke wurden länger und länger. Kante sind übrigens immer noch am besten, wenn Peter Thiessen nicht singt, wie in dem fast zehnminütigen „Best Of Both Worlds“.

Schwarz haben sich für „Das Schloss“ ebenfalls allerlei einfallen lassen und ihre Stücke dabei mit Gastauftritten, Effekten und Gimmicks befrachtet. Neben dem Drang zum Erhabenen, der mit der Tendenz zum „Werk“ bei Kante korrespondiert, ist es nun vor allem der inhaltliche Ertrag, in dem beide Bands schließlich zueinander finden und in eine derzeit mal wieder schwer konjunkturiende „Sinnstiftung durch Liebe“-Propaganda einstimmen. „Zweilicht“ schließt mit dem Song „My Love Is Still Untold“, „Das Schloss“ endet mit „Liebe“.

Welche die ihrer Ambition eher gerechte Platte ist, ist nicht schwer zu erraten. Kante haben das musikalisch ergiebigere Konzept und verzichten auf das Spiel mit Magie und Mystik, das Schwarz zuzeiten nach Märchenonkeln klingen lässt. Sinnsuche jedenfalls scheint – da nehmen sich beide Bands nichts – wieder schwer im Kommen zu sein.

Und zwei Kurze:

THE FALL: The Unutterable (Eagle Rock/Connected) Mark E. Smith ist auch nach der Pizza mit Tocotronic ganz der Alte geblieben. Von all den unzähligen bisherigen Fall-Alben unterscheidet sich“The Unutterable“ vor allem dadurch, dass es das neueste ist.

MOTORPSYCHO: Roadwork Vol. 2 – The MotorSourceMassacre (Stickman/Indigo)

1995 traten Motorpsycho mit der Trondheimer Free-Jazz-Band The Source auf. Dies ist der Mitschnitt der Show. Ein wildes Fest zwischen Rock, freiem Jazz und dem Lärm aus Deathprods analogen Synthesizern. Motorpsycho – wieder einmal – ganz anders, und gleichzeitig und deshalb aufregend wie immer. Neulinge in der Welt von Motorpsycho sollten wohl einen anderen Eingang wählen.

Kultur – was ist das eigentlich?


Ästhetische Abbildung der Wirklichkeit? Kritische Auseinandersetzung über die Welt? Sinnstiftung durch Künstler mit dem nötigen Gespür dafür, worum es wirklich geht oder doch zu gehen hätte?
Jeder, der etwas auf sich hält, sorgt sich um die Kultur, und auch der Staat leistet sich Minister und Etat dafür. Was also ist sie? Offenbar hat sie nicht viel mit dem Alltag zu tun, denn da dreht es sich um Dinge wie frühes Aufstehen, Arbeiten und davon auszuruhen – da capo al fine. Alles in allem recht unerfreuliche Dinge also. Kultur spielt sich eher außerhalb des Reichs der lästigen Notwendigkeiten ab. Ist sie also ein Luxus, den sich eine Gesellschaft leistet, damit das Leben lebenswert wird? Hat man sie also vielleicht deshalb so nötig, weil man in ihr findet, was man im Alltag nicht entdecken kann? Erbauung vielleicht? Das Gute? So wird es wohl sein, denn als Sinnstifterin wird sie allseits geschätzt. Doch nimmt sie als solche dann nicht eher eine antikritische Rolle ein? Wird nicht in der Sinnfrage nach Gründen gesucht, die hinter den „profanen“ Zwecken liegen, die in der Welt aus Herrschaft, Kapitalismus und Kriegen walten? Ist das nicht die Fahndung nach guten Gründen, mit der Welt seinen Frieden schließlich doch zu machen?
Die Herrscher dieser Welt haben diese Leistung kulturellen Treibens jedenfalls von jeher zu schätzen gewusst, sollte und soll doch der Glanz der von ihnen gesponserten Welt des Schönen und Kunstvollen auf ihre Herrschaft abstrahlen und sie erst ins richtige Licht rücken. Auf diese Weise können sich die von der realen Herrschaft Betroffenen an der Einbildung erbauen, dass sie Teil von etwas Höherem sind, das die damit verbundenen Opfer schon wert sein wird. Die Obrigkeit, die das Schöne praktisch in die Welt setzt, zum Beispiel über Theatersubventionen, Museen, Stipendien, Kunst im öffentlichen Raum und ähnliches, beantwortet dergestalt die nationale Sinnfrage, so dass sich ein Franzose über die Grande Nation ebenso freuen darf wie der Deutsche über das Land der Dichter und Lenker, pardon, Denker. Nationalität kennt Kultur also auch, und das nicht zu knapp. Wenn es in der Kultur darum geht, die Nation zu adeln, ist die nationale Vereinnahmung der Künstler noch die leichteste Übung. Wenn an ihnen festgehalten wird, dass sie Lichtgestalten der jeweiligen Nation sind, offenbart dies die Ignoranz gegen jeden bestimmten Inhalt der Künstler. Schließlich muss ja ein Volk, das so viele große Menschen hervorgebracht hat, etwas ganz Besonderes sein. Da wird noch ein Bertolt Brecht, seines Zeichens bekennender Kommunist, als großer deutscher Denker geschätzt. So kann man als Deutscher, Franzose oder Engländer schon stolz sein auf „seine“ Vergangenheit, in dessen Tradition man sich fühlen darf.
Und die Künstler? Die missverstehen den Zweck der Veranstaltung so gründlich, dass sie meinen, ohne sie ginge überhaupt nichts. Sie verwechseln das Interesse des Staates, sich mit einer nationalen Kunst zu schmücken, mit der Bedeutung ihrer Werke. Von der sind sie so überzeugt, dass sie die Anerkennung des Staates glatt einfordern, wenn der sie ihnen versagt, etwa wenn er aus haushaltspolitischen Gründen beschließt, sich ein Theater zu sparen. Bitter, wenn man so seinen Arbeitsplatz verliert, aber es steht zu befürchten, dass sie daran nicht nur materiell leiden.

Deutscher Eintopf oder Cuba Libre? Dr. Blohm und Herr Voss erörtern ein schweres Thema


Voss: Da haben sie uns aber eine Suppe eingebrockt, die so schwer und dick ist, wie die Eintöpfe meiner Lebensgefährtin, werter Blohm. Als ob ausgerechnet wir wesentliches über Nationalismus mitzuteilen hätten…
Blohm: In der Tat eine unangenehme Thematik, aber ich muss sie bitten, sich nicht immer auf die eigene Ignoranz herausreden zu wollen. Sogar der Staat verlangt nach mündigen Bürgern, und wenn schon die Schulpflicht sich zumindest unter anderem dem Ziel verdankt, solche herzustellen, können sie doch nicht behaupten, sie hätten mal wieder von nichts gewusst.
Voss: Sollen wir uns mit einem Transparent auf den Marktplatz stellen, um den Anfängen zu wehren?
Blohm: Keine Rede davon. Erstens ist es dummes Zeug, den Anfängen von etwas wehren zu wollen, das es schon und mindestens seitdem ununterbrochen gegeben hat, da Vater Blohm – Friede seiner Asche – mich zum Wählen geschickt hat, und zweitens glaubt ohnehin jeder aufrechte Demokrat, er würde in seiner Liebe zur demokratischen Heimat mit dem inkriminierten Pöbel nichts gemein haben. Diese moralische Entrüstung reicht dann schon, um sonst jeden Fug mitzumachen, den Vater Staat veranstaltet. Da wählen sie auch eine Partei, die einen Krieg immer noch für die ultima ratio der Staatszwecke hält, was er erstens auch ist, und zweitens geht das auch kaum anders, wenn man schon wählen möchte, hat sich der Gedanke der Einheitsfront doch selten eindrucksvoller manifestiert, als in der fraktionsübergreifenden Zustimmung zum letzten Krieg.
Voss: Aber wenn wir uns schon einig sind, dass die Sache Deutschland die unsere nicht sei, sollten wir daraus nicht Konsequenzen ziehen?
Blohm: Ja. Wir warten.
Voss: Worauf?
Blohm: Ich las, die Deutschen stürben aus.
Voss: Das werden sie wohl kaum erleben.
Blohm: Und meine Kinder auch nicht.
Voss: Aber sie haben doch gar keine Kinder!
Blohm: Manchmal ist es eben besser, nichts zu tun, um der richtigen Sache zum Sieg zu verhelfen.
Voss: Sie sind ein Defätist.
Blohm: Schön, dass unsere Bekanntschaft wenigstens eine gewisse Halbbildung bei ihnen bewirkt hat.
Voss: Schön, dass sie immer noch das alte Ekel sind. Aber ich habe noch etwas gelernt, und zwar von Lenin. Der hat bei jeder Gelegenheit gefragt: Cui bono? Das heißt soviel wie: Wem nützt es? Wem nützt es, wenn die Deutschen aussterben? Erklären sie mir, was gerade sie davon hätten?
Blohm: (betrübt) Ach, sicher gar nichts, werter Voss. Ich musste nur an Voltaire denken, der seinen Candid am Ende sagen lässt, es gelte „unseren Garten zu bebauen“. Ein Interpret wies darauf hin, dass Goethe im zweiten Teil des Faust zu dem gleichen Ergebnis kommt: Das „Laboremus“ als letzter Schluss von schlichtweg allem. Ich möchte einfach nicht dabei sein, wenn es am Ende doch wieder heißt: Lasst uns arbeiten! Franzosen scheinen keinen Deut klüger zu sein, als Deutsche. Wenn das also ist, worum es geht, bin ich lieber Defätist und lasse mir in meinem Garten von Frau Blohm ein paar eisgekühlte Cuba Libre bringen.
Voss: Eine wahrhaft rebellische Geste. Wie wär’s, wir fingen sofort damit an?
Blohm: Sie sind ein Mann ganz nach meinem Geschmack, auch wenn sie aus Hastedt kommen.
(Beide treten in herzlicher Umarmung ab)

Betonstraße (Tobacco Road)


Vorbei an den Haltestellen Hanfstraße und Betonstraße fahre ich einmal in der Woche in eine postindustrielle Tristesse, um dort zu arbeiten. Entsprechend ist es auch keiner dieser coolen, glamoureusen Jobs, die ihr alle da draußen macht. Es dauert eine halbe Stunde mit dem Zug und anschließend noch etwas mehr als eine halbe Stunde mit dem Bus, um zu meinem Arbeitsplatz zu gelangen. Es gab dort eine durchgehende Zugverbindung, aber das ist lange her. Da draußen gibt es auch nicht viel zu sehen. Ab und an fahren Leute zum alten U-Boot-Bunker, der seinerzeit von Zwangsarbeitern so verdammt stabil gebaut wurde, dass ihn auch die alliierten Bomben nicht zerstören konnten. Wer Beständigkeit sucht, wird hier fündig. Manchmal auch andere Leute, die dort im Schatten des Baus, wo seit ein paar Jahren im Sommer Karl Kraus‘ „Letzte Tage der Menschheit“ aufgeführt werden, Fememorde begehen. Ich war auch einmal des Nachts mit ein paar Freunden dort. Wir kamen in einem alten Trabant, den kurzzuschließen wir zu blöd waren, nachdem der Schlüsselinhaber bei ein paar Purzelbäumen den Schlüssel verloren hatte, der sich auch am nächsten Tage nicht wieder anfand. Nachdem wir jedenfalls am historischen Ort ein paar merkwürdige Dinge nonverbal geklärt hatten, mussten wir ein Taxi nehmen, um heimzukommen. Den Trabant schleppten wir ein paar Tage später wieder zurück in die Stadt, lackierten ihn um – in Blau mit einem runden weißen Fleck auf dem Dach – und schoben ihn durchs Quartier, währenddessen wir Handzettel für ein Festival verteilten. Danach wollten wir noch etwas erleben und gingen in eine dieser Bars, wo man auf Deckel trinken und jede Menge Leute treffen konnte. Ich hatte gerade eine Frau angesprochen und wollte sicherlich nichts Anständiges von ihr, als ein Freund auf die Idee kam, einen kleinen Trip nach Hamburg zu machen.
Besagter Freund kam nicht nur nicht in Hamburg an, er überlebte diesen Abend nicht, und der Rest von uns hatte zumindest nicht viel Spaß in jener Nacht. Eigentlich war es alles in allem verdammt knapp. Ab und zu fragt mich immer noch jemand, ob ich jüngst eine Schlägerei gehabt habe, was mich dann immer verdutzt, bis mir einfällt, was er oder sie meint: die Spuren, die mir geblieben sind. Ein paar Photos habe ich auch noch, die die Spuren frischer zeigen, noch verschorft, ich in heroischer Pose auf dem Wrack unseres Gefährts mich flegelnd, was der Schrottplatzbesitzer seinerzeit arg unanständig fand.
Die Frau, die ich an diesem Abend angesprochen hatte, sehe ich dann und wann auf der Straße, und sie weiß nicht, warum ich mich vor allem an sie erinnere. Eine Weile erinnerte mich auch noch ein Dauerauftrag, der mich in seinem Verlauf eine Menge Geld kostete, an diesen Abend, der mittlerweile ziemlich genau zehn Jahre zurück liegt, und auf ganz unerquickliche Weise damit zusammenhing. Und so ganz gleichgültig steht man so einer Geschichte vielleicht sowieso nie gegenüber. Dass ich mich eine Weile mit einem verquasten schlechten Gewissen diesbezüglich herumtrug, machte mir eine Freundin vor nicht allzulanger Zeit klar. Weil ich den Unfall selbst bewusstlos erlebte, erst zu mir kam, während ein Arzt mein Augenlied wieder zusammennähte, ich eigentlich immer lediglich vermittelt über die Erzählungen der anderen Beteiligten die Situation nachempfinden konnte – reflektiert höchstens noch über die Reaktion der anderen hinsichtlich meines eine Weile martialischen Äußeren, dessentwegen ich ernsthaft Schwierigkeiten hatte, eine neue Wohnung zu finden – fand ich auf eine Weise befremdlich. Keine Alpträume, kein Zusammenbruch, keine Schuldgefühle – außer vielleicht genau deswegen.
Dabei war es nun mal eben so. Neben den erwähnten Kosten war da im Grunde nicht viel mehr als die Befürchtung, es könne fortan problematisch sein, bei irgendwelchen Leuten im Auto mitzufahren. Deshalb stellten wir – ein Freund, der damals im gleichen Auto saß, und ich – uns nach unserer Widerherstellung an die Straße nach Italien, um uns diese höchst unpraktische Angst gar nicht erst anzugewöhnen. Es funktionierte, auch wenn der Impuls anfänglich unwiderstehlich war, an Fahrers Statt die Bremse zu treten und sich in Ermangelung eines entsprechenden Pedals auf der Beifahrerseite gegen das Bodenblech zu stemmen. Und mit der Zeit tat auch das Atmen nicht mehr weh, wie es das wegen einer Lungenquetschung noch ein paar Wochen getan hatte.
Gerade noch war ich auf meiner Festplatte unterwegs, um noch nicht verbratene und mitteilenswerte Gedanken zu finden – erfolglos. Bei der Sichtung einiger alter Texte fiel mir auf, dass mir manche Gedanken, die ich mir vor Jahren machte, mittlerweile einigermaßen seltsam vorkommen. Das ist nun nicht weiter vewunderlich. Frappierend war aber, wie stark das Bewusstsein davon, wieviel freier von materieller Sorge mein Leben eine Zeitlang war – ein Bewusstein, das ich als Wissen ohne Probleme auch jetzt jederzeit noch abrufen kann -, als ungebrochenes Empfinden aus manchen Texten spricht, was nicht gleich unbedingt für deren literarische Qualität spricht. Eher wohl daher rührt, dass ich mich mit den ganzen Notwendigkeiten, die permanent reproduziert werden, immer noch nicht abfinden mag, unverändert den Reiz darin ausmachen kann, auch wenn ich mittlerweile immerhin einmal in der Woche einen dieser Jobs mache, die ich nie hatte machen wollen – als ob es andere gäbe. Ich lebe damit, dass nun die Schulglocke auch für mich bisweilen wieder schlägt.
Genau zehn Jahre nach der Nacht, um die sich dieser Text rankt, spielen Youth Of Today in der Stadt. Sowas nennt man wohl einen Treppenwitz – oder auch nicht. Ich habe bis heute nicht herausgefunden, was dieser Ausdruck meint.
„May have come a long way, but i got a long way to go“, singt B.W. Stephenson, während ich so vor mich hin tippe, irgend so ein mittelprächtiger Country-Typ. Man muss nur ein paar alte Country-Platten auflegen, um mit massig Sinn versorgt zu werden. Danach kommt John Hartfords „Untangle Your Mind“, was immerhin ein guter Rat sein kann: „Relax or you’ll snap/ like a string in the strain/ without your umbrella/ go out in the rain/ just look in the treetops/ and let it come down/ and try and untangle your mind“ – das habe ich auch mal in einer längeren Geschichte einem Abschnitt vorangestellt, wie man das eben so macht.
Als nächstes ist dann Willie Nelsons „Yesterday’s Wine“ an der Reihe, und wer weiß, ob der alte Kiffer sich da nicht einen Wortwitz erlaubt hat, der auf der Klanggleichheit von „wine“ und „whine“ basiert. Der letzte Schluck von dem köstlichen Merlot geht an die paar Leute da draußen, die so etwas wie Freunde sind. Wir sehen uns hoffentlich bald.

(aus Trust # 101)

Die Nächte im Dummkowski 2


Zehn vor zehn am Morgen in die Kissen sinken, nichts mehr wollend, als schlafen, was doch sonst eine Zeitvergeudung scheint, weil in der Zeit des Schlafs nichts anderes getan werden kann. Veritabler Party-lag, die Zeitverschiebung, die eintritt, wenn der Körper immer noch auf den Lärm und die schlechte Luft und den Alkohol programmiert ist, der Kreislauf ganz oben. Und außerdem das Bedürfnis, etwas von diesem Moment aufbewahren zu wollen. Zwölf verdammte Stunden haben wir gerockt, wankten um halb zehn oder so aus dem Laden und nach Hause, und es war ein heller Morgen, kühl, trocken, ein joggendes Pärchen lief durch uns hindurch wie Hologramme oder Projektionen, die vielleicht auch wir waren, alle Materie von der beißenden Luft des Raumes absorbiert, in dem wir gefeiert hatten.
Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt waren alle zu Hippies konvertiert, wahrscheinlich, ohne es zu merken, aber ich hatte gemerkt, wie im Licht, das durch die Glassteine in der Wand erstes Tageslicht schien, die Konturen weich wurden, auch wenn Slayer lief, und … And You Will Know Us By The Trail Of Deads „A Perfect Teenhood“, wo sie am Ende nur noch „fuck you! fuck you! fuck you!“ schreien, auch wenn meine jüngste Romanze dem Ansturm beinahe – und auf längere Sicht sowieso – nicht gewachsen war, weil ich keine Lust hatte, noch bevor die Party wirklich begonnen hatte, zweisam zu werden, dafür würde später Zeit sein, wie ich dachte, was mir die andere an der Affäre beteiligte Person ein wenig übel nahm, später dann mit einem Typen Zärtlichkeiten austauschte, was ich vom DJ-Pult aus gut sehen konnte und mich durchaus amüsierte, weil sie entweder einfach ihren Spaß hatte, und dafür war die ganze Sache ja da, oder eben eine etwas hilflose Retourkutsche fuhr – nur wohin? – jedenfalls nicht über die Ziellinie, und dann später wusste sie nicht, ob ich sie überhaupt ernst nähme. Jedenfalls ging sie um halb vier oder so, nicht, dass ich danach unkeusch geworden wäre, aber im weichen Licht des Morgens freute ich mich über die Freude einer entfernteren Bekannten oder einer guten Freundin, dass wir ganz eng aneinander tanzen wollten, und wer würde das so ohne weiteres verstehen, würde nicht vielleicht an der Aufrichtigkeit meiner Zuneigung zweifeln, die zumindest für den Moment durchaus tiefer sein mag zu einer Frau, mit der ich vielleicht ein paar Jahre zusammenwohnte, es ist schließlich kein verdammter Wettbewerb, wohin Menschen neigen, aber Dramen gibt es schließlich wegen sowas immer wieder bei manchen Leuten. Warum man der Frau auf den Hintern geschaut habe, oder warum sie denn sich auf irgendeiner Party so eng und lang mit diesem ungewöhnlich gut aussehenden Typen unterhalten habe, da war doch bestimmt mal was, oder warum sie dem Typen auf den Hintern geglotzt, oder er sich zum gegenseitigen Gefallen flüchtig am Busen einer ungewöhnlich attraktiven Frau rieb, jedenfalls die ganze unangenehme Eifersuchtsszen-arie, die immer auch unangenehm ist und grell in den Ohren und es auch sein soll, weil Fesseln schließlich weh tun müssen, wenn sie fest halten sollen, aber es ist nicht damit getan, nicht eifersüchtig sein zu wollen, es geht nicht ohne den umgesetzten Entschluss, auch das zuzulassen, was jeweils den aktuellen Auslöser von Eifersucht als Ausdruck der Zwingburg „Treue“ bildet, die auf dem Treibsand leidenschaftlicher Schwüre gebaut ist.
Die späten Stunden dieser Feier gingen ohne das. Die Atmosphäre war gar nicht einmal sexuell, vielmehr lösten sich Grenzen zwischen Sex und Liebe und Freundschaft auf, hätten unterstützt von Drogen die Illusion nähren können, es würden dies Verhältnisse sein, die nun so bleiben würden, weil auch kein Gedanke an eine spätere Zeit Platz hatte. Nur dass nicht einmal für diesen Gedanken Platz war.

(aus Trust # 95)

DIE VERDAMMTE DULDSAMKEIT DER OPTIMISTiNNEN


Eine Bekannte schrieb gerade aus San Francisco, dass es auch dort grau und kalt sei. Und hier, draußen im Park hatten die stehenden Gewässer zwar schon angefangen zu rotten und entsprechend zu stinken als hätte es Hitze, aber auf den Wegen tummelten sich Nacktschnecken in einer Häufigkeit, die seit dem Frühling nicht mehr der Fall war. Nicht wenige dieser Schnecken hatten ihr jämmerliches Schneckenleben bereits ausgehaucht, falls Schnecken überhaupt hauchen können, und lagen, ihre Gedärme vergleichsweise großzügig auf mehrere Quadratzentimeter Wegs verteilt, matschig umher. Vermutlich hatten sadistische Halbwüchsige die Viecher auf dem Gewissen, oder, wahrscheinlicher noch, rücksichtslose Radler, die sich auf ihren zwei Rädern ohnehin wie die Könige der Parkwege aufführten, wobei sie sich zu allem Überfluss auch noch moralisch über Autofahrer zu erheben pflegten. Heute waren zum Glück nur wenige Menschen im Park unterwegs. Es war nun auch wirklich nicht eben das heiterste Vergnügen, entlang der vom Regen vor ein paar Stunden immer noch matschigen Wege zu streifen und die schüttere Abendsonne zu suchen. Da, wo sie zu sehen war, hatten sich auf sämtlichen verfügbaren Bänken bereits Menschen gefunden, die mit verklärtem Gesicht noch ein paar Strahlen zu erhaschen suchten, wie sie selbst es vielleicht nennen würden.
Wir hatten Mitte Juli, fast auf den Tag genau, und draußen sah es aus wie Ende September. Dass es in San Francisco nicht viel anders aussah, konnte da auch nicht allzuviel reißen. Dazu kam, dass auch ansonsten die Lage nicht eben dazu angetan war, Bocksprünge aus schierem Wohlsein zu vollführen. Nicht, dass etwa irgendwelche sonderlich ungewöhnlichen Härten auf die Agenda getreten wären. Aber die gewöhnlichen taten ihre Wirkung schließlich auch – auf ihre unverdrossene, gewohnte Art. Und dass das schon die gewöhnlichen waren, war genau genommen eigentlich ja auch alles andere als erfreulich. Sich dann auch noch mit Leuten zu unterhalten, die schlichtweg nichts Besseres zu tun hatten, als ihre Notwendigkeiten „Chancen“ zu nennen, war in meiner Stimmung ganz besonders unerquicklich. Mal im Ernst: Zu behaupten, der bloße und kaum fort zu ignorierende Zwang, sich mit vermittels irgendwelcher Jobs am Kacken zu halten, eröffne gewissermaßen eine hervorragende Möglichkeit, just dieses zu tun, übersieht nicht nur, dass diese Chance gleichzeitig für gewöhnlich auch die einzige Chance für diesen Zweck ist, sondern spricht dem, was sonst so als Chance verstanden wird, Hohn. Laut Duden ist eine Chance schließlich und immerhin eine „günstige Gelegenheit“. Und wie günstig kann schon eine Gelegenheit sein, die da gar keine Alternative kennt?
Neulich, auf dem Flohmarkt Miles Davis‘ „Filles de Kilimanjaro“ für 15 Mark mitzunehmen, mochte eine „günstige Gelegenheit“ gewesen sein. Aber mit Blick auf die Nötigung, sogar für die allernotwendigsten Lebensmittel ein paar Mark auf den Tisch legen zu müssen, ganz grundsätzlich von Chancen zu reden, ist einigermaßen absurd.
Ein solcher Optimismus ist überdies auch noch einigermaßen unangreifbar, da er schließlich auf einem Willensakt beruht, der sich ganz wissentlich davon verabschiedet hat, die Verhältnisse einmal als das zu nehmen, was sie sind. Welche Konsequenzen ein jedes daraus zieht, ist ja sowieso eine andere Geschichte, aber zu der kommt ein Optimist nicht erst. Er besteht darauf, dass erstens die Möglichkeit, zweitens das denkbare Schlechtere und drittens ganz überhaupt die Unzufriedenheit, die aus dem potenziellen Zustandekommen eines negativen Urteils erfolgen könnte, Gründe genug abgeben, die jeweils zur Debatte stehende Sache grundsätzlich lieber gleich positiv zu sehen. Und dann komm‘ mal so jemandem damit, etwaige Unzufriedenheit mit diesem und jenem zu konstatieren! Vergiss es – damit machst du es nur noch schlimmer.
Wer bei der Feststellung seines Befindens so gründlich von seinen Bedürfnissen absieht, lässt sich mit zwingender Logik ja nicht von Kleinigkeiten wie materiellen Bedürfnissen irritieren. Nicht nur, weil es mit deren Umsetzung schließlich stets noch bescheidener aussehen könnte, nein, weil materielle Bedürfnisse auch den Makel des Profanen tragen, denn es gibt ja schließlich noch „mehr als wie Geld auf der Welt“, so lautet der Befund, mit dem sie so recht haben, dass sie anscheinend gar nicht mehr wissen, wie sehr ihre Feststellung den Tatsachen entspricht. Sie tun damit schließlich glatt so, als sei ihnen gar nicht aufgefallen, dass sie mit dem Geld, dass sie in all‘ den tollen Jobs so verdienen – was ja in ihren Augen auch wieder so eine schätzenswerte Sache an diesen Jobs ist, und noch nicht einmal die einzige – sich immerhin so viele jener verachteten materiellen Bedürfnisse befriedigen, dass am Ende meist nichts mehr vom schnöden Mammon übrigbleibt. Ist das nun verlogen oder ignorant?
Und das berührt noch gar nicht die immateriellen Bedürfnisse, für die man in einem Land wie diesem für gewöhnlich ja auch noch mal eine schöne Stange Geld los wird. Womit wir wieder bei Miles Davis wären.. Oder ist das etwa schon wieder mein Materialismus, der sich regt, wenn ich mich an Tony Williams‘ verdrechselt pulsierendem Spiel erfreue? Oder, um ein weniger profanes Beispiel zu wählen (ich habe übrigens gegen Materialismus hier gar nichts gesagt), ist es dieser verächtlichen Regung geschuldet, dass ich die stumpfe Verrichtung von Erwerbsarbeit kürzlich für einige Tage dagegen vertauschte, mit einigen äußerst liebenswürdigen Menschen durch die norddeutsche Tiefebene zu fahren und meine Klausur am heimischen Schreibtisch, an dem jetzt auch das hier entsteht, zu unterbrechen, dieses oft so auslaugende Hocken und Zeilenschinden, das bisweilen sicher auch Spaß macht, was dann wieder von Optimisten so gnadenlos zur Chance umgedeutelt wird, weil es ja angeblich meinen Neigungen entspricht, dieses Hocken und Zeilenschinden also… Dass ich es eingetauscht habe gegen Spaziergänge in strömendem Regen, gegen das Herumsitzen auf einer Treppe, die hinterrücks an einem der Clubs angebracht war, in dem besagte liebenswerte Menschen am Abend Musik gemacht hatten, gegen das Trinken und Rauchen auf dieser Treppe bis die Sonne aufgegangen war, gegen ein ausgelassenes Tänzchen zu Gene Pitneys „Lonesome Town“, nachdem mein Verstand schon Schlafen gegangen war, gegen verkaterte Frühstücke und andere merkwürdige Bekanntschaften?
Den Preis dafür auszurechnen habe ich mir erspart. Das hätte den in diesem Falle zuvörderst ideellen Gewinn beschränkt, aber auch der war schließlich zuschlechterletzt zu erkaufen. Nicht nur, dass das, was die ganzen Gründe dafür abgibt, sich mit all‘ den Unannehmlichkeiten abzugeben, nicht selten auch mit matt klingender Münze zu entlohnen ist. Auch die Dinge, die zur Ausnahme einmal nicht mit einem Preisschild ausgezeichnet sind, lassen sich nicht so eben von dem trennen, was da ganz nackert als Konsequenz einer auf Privateigentum basierenden Volkswirtschaft im Wege steht. Es hat wahrscheinlich auch mit den Folgen zu tun, die recht willkürlich mit dem biologischen Lebensalter verknüpft werden, dass sich in meinem Bekanntenkreis allerlei Beispiele dafür finden lassen. Nicht, dass sich in meinem Fall allzu viele Fälle finden ließen, die sich für die nächsten Jahrzehnte in Fabriken würden ruinieren müssen. Auch die, die sich in den privilegierten, in gewissen Kreisen durchaus begehrten Berufen, wie dem des Arztes, Anwalts oder Lehrers, ihr Vollkornbrot verdienen würden, gaben nicht gerade Grund ab, dass die zu erringenden Lorbeeren süße Früchte, die zu pflücken ein reines Vergnügen wäre. Was würde schon noch übrig bleiben, nachdem die unbezahlten Überstunden abgerissen, die Ärsche durchkrochen, die vor einem Platz an der Sonne sich breit gemacht, die illusorischen acht Stunden eines Arbeitstages absolviert und die davon notwendige Erholung noch obendrein erledigt wäre?
Wohl dem, der Erfüllung darin findet, dem herankeimenden Nachwuchs des deutschen Volkes per Schulnote den Platz im Gefüge zuzuweisen. Wohl dem, der die dieser Gestalt ihren Anlagen gemäß in der Konkurrenz um die vielen schönen „Chancen“ gestellten Bürger nach entsprechendem Verschleiß verschlissenen Kaputten für ihre jeweiligen „Chancen“ wieder zurecht flicken darf. Wohl dem, der jenen, die sich im Kampf um das, was einem jeden gleich an Recht zugebilligt wird, beistehen darf. Wohl dem, der vermittels aufopferungsvoller Recheche als Teil der vierten Gewalt im Staate darauf achten darf, dass auch alles im Sinne der Väter und Mütter unseres freiheitlichen Grundgesetzes weiterhin seinen, für uns alle so chancenreichen Gang gehen möge. Auch morgen wieder. Auch morgen geht dieser ganze beschissene Betrieb weiter. Das ist wirklich noch sicherer, als das Amen in der Kirche, drauf werd‘ ich meinen Arsch zwar bestimmt nicht verwetten, aber es sieht schon sehr danach aus. Eine gute Nacht noch, euch da draußen.
stone
(aus Trust # 83)

DIE NEUJAHRSWÜNSCHE DER MUTTER OBERIN


Ich habe die Zukunft dieses Landes gesehen! Auf einer Party, auf der wieder Alle betrunken waren, und auf der sie sich wiedertrafen, auch wenn sie die letzten Jahre damit verbracht hatten, genau das zu vermeiden. Alle die, die schon lange nicht mehr in einer der drei Kneipen gesichtet wurden, die man in dieser Stadt noch besuchen konnte, wenn man halbwegs unentwegt war und nicht ohnehin besseres mit seiner Zeit anzufangen wusste oder musste.
Heimkehrende Königinnen waren sie allesamt nicht geworden, dazu hatte es dann doch nicht gereicht, auch wenn einige von ihnen in die Welt gezogen waren in dem scheinbar unumstößlichen Willen, ebendies zu werden, Knäbelein wie Mägdelein. Einige von ihnen waren bei der Feststellung des kaum zu übersehenden noch nicht ganz an ihrem Ende angelangt. Solche Leute hatten gleich andere Arten der Feierlichkeit gewählt und sich den Verlust der Hoffnung zu ihrer ohnehinnigen Absicht zurechtgelogen.
Wer noch Advokat werden wollte, mochte zwar wissen, dass er im Zweifelsfall auch seinen Teufel würde vertreten müssen, was manchen den brenzligen Geruch der versengten Federn eines Überfliegers, das Aroma von Gefahr in die Nase trieb, woran sie sich ergötzten, andere würden mit der Differenz von Recht und Gerechtigkeit eher ein Problem haben, die dem Idealisten schließlich ein Gräuel sein muss. Wer den Mühseligen und Beladenen Trost Hilfe spenden wollte, in dem er Arzt, sie Psychologin wurde, konnte in der Theorie noch übersehen, wofür man ihn wirklich bezahlen, womit wirklich beschäftigen würde. Wer sich nun kein Haus gebaut hatte, würde sich keines mehr bauen, glaubten wir Studenten der Architektur, die sich unversehens zu besseren, wenn auch nicht besser bezahlten Ingenieuren degradiert sahen, beklagten, ihre Kreativität nicht ausleben zu können.
Wer nach der von Vater Staat spendierten wie erzwungenen Schulung bereits im Wettbewerb unterlegen und dadurch von den höheren Weihen jenes höchsten Gutes, der Bildung ebenso ausgeschlossen war, wie von allerlei Möglichkeiten, sich einen Unterhalt zu verdienen, der das Nötigste um ein Feststellbares überstieg, kurz gesagt, wer eben nur ein ganz gewöhnlicher Besitzloser war, konnte sich derlei Gedanken natürlich ohnehin sparen.
Wer indes noch einen bürgerlichen Beruf vor sich hatte, also beispielsweise Lehrer, Journalist oder Akademiker werden konnte, hatte noch das zweifelhafte Vergnügen, sich dies als ihm oder ihr gerecht zu verstehen, bevor sich dieser Idealismus schließlich an der Realität die Zähne ausbeißen würde, wenn er oder sie nicht zu denen gehörten, die mit Erlaubnis des Zufalls, an den viele nicht glauben wollten, weil sie sich dies lieber zur eigenen Leistung zurechtlegten, sonst wäre es einfach zu profan, denn dann hätte ja auch beliebiges Mitglied des Pöbels, ah, Verzeihung, des Plebs (das klingt so herrlich nach Plebiszit)… Daran wagten sie nicht zu denken,weil sie sich besser dünkten. Vielleicht nicht besser, aber zumindest doch ein wenig klüger. Und wahrscheinlich doch auch ein bisschen etwas Besonderes, so jedes auf seine Weise.
Was mich mit ihnen verband, mich von ihnen trennte, was ich vielleicht mit ihnen geteilt hatte, Feinde, Freunde oder das Lager, Bier, einen Proberaum oder eine Wohnung, Ideen, Geschmack oder den Innenraum eines Autos, es mag ja so manches gewesen sein; es spielte in den seltensten Fällen noch eine Rolle, und in den meisten bedauerte ich’s nicht. Überdies war es in hohem Maße gleichgültig, weil schließlich alle betrunken waren, auf die überschäumende Art, denn alle dachten, es sei nun ausgerechnet diese eine ganz besondere Nacht, vielleicht aber auch nur, weil sie sich vorher aufs Angenehmste hatten den Wanst vollschlagen lassen, oder weil sie sich eben einfach freuten, auf dieser verdammten Party zu sein.
Ständig stießen sie zusammen an den Türen, wo sich die Ströme verjüngten, zumindest bildlich gesprochen, und erkannten sich. Einige hatte ich seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Zu sagen, wir hätten uns nicht verändert, wäre niemandem eingefallen. Naja, mir schon. Einige von ihnen waren sich in bemerkenswerter Manier treu geblieben, so hatte es den Anschein.
Es muss mehr als die bloße Unwissenheit sein, die jene Arroganz hervorruft, mit der sich das, was vorlaut Jugend genannt wird, bisweilen auszeichnet. Mehr als der Leim, auf den geht, wer die Versprechen der Glücksschmiede, in der jeder frei sein eigener Entrepreneur sein darf. Der scharfe Tadel, den sich Menschen zuziehen, und der unter den Titeln „Spießertum“, „Arriviertheit“, alternativ, je nach Verlauf aber auch „Verlierertum“ firmiert, vorgeschaltet vielleicht noch der Spott über die „Erwachsenen“. Das immanente Besserwissen, das doch in annähernd jedem Fall den Beweis nicht antritt, sonst würde sich dieses bürgerliche Trauerspiel nicht zum Erbrechen wiederholen.
Sie alle beginnen mit den gleichen Chancen, so lautet die Behauptung, die immer wieder gern genommene, und der eine neigt eben eher zur proletarischen Lebensart, der andere, der ist eben ein echter Machtmensch. Und die, die wissen, wie der Hase läuft, die gibt es auch. So einer saß neulich mit mir im Abteil zwischen Hamburg-Altona und Bahnhof Zoo. Er war ganz unten gewesen. Er hatte Bier auf Hawaii verkaufen wollen, der Melodie eines alten Liedes folgend, demzufolge es kein Bier dort gebe. Erstens stimmte das nicht, aber zweitens hatte er auch kein Geld für die Investition gehabt. Er hatte auch einen Klempner-Notdienst eröffnet, eine kleine Backstube gegründet und sogar, als er dies erzählte, senkte er die Stimme, mit Marihuana gehandelt. Er trug eine Plastiktüte voller Bierdosen bei sich, bezüglich derer er sich überaus spendabel erwies, nicht zu vergessen, dass er mir sogar ein wenig Bares gab, damit ich mein Zugticket zur Gänze bezahlen konnte.
Jedenfalls machte er in Fertighäusern. Er sei auf dem Weg nach ganz oben. Ich saß im gleichen Zug wie er. Der Zug fuhr nicht nach oben. Er habe herausgefunden, wie man’s macht. Verraten hat er es mir natürlich nicht.
Ob er mir hätte erklären können, warum es soviel mehr Seketärinnen als Schauspieler, mehr Fließbandarbeiter als Schriftsteller, mehr Hausfrauen als Fabrikbesitzer und mehr Arbeitslose als Photomodelle gibt?
Sich zu verwirklichen ist keine Erfindung geläuterter esoterischer Alt-Hippies. Es wimmelt nur so vor Leuten, denen es stets daran gelegen ist, sich das im Beruf erreichte als ganz persönliche Leistung zurechtzulegen. Jeder nach seiner Fassong eben. Erzähl‘ das deinem Müllmann. Auf die Gefahr hin, dass er bereitwillig den gleichen Sermon erzählt.
Biographien gehen auch so. Leute, die „es“ geschafft haben, die haben es eben geschafft, weil sie an sich geglaubt haben. Durch jede Durststrecke hindurch haben sie sich immer wieder eingehämmert, dass du an dich glauben musst. Der Erfolg gibt ihnen schließlich recht. Sonst hätte es ja wohl auch nicht…
Niemand gibt den gleich Senf heraus, kommt er von jemandem, der mit der gleichen Rezeptur scheitert. Das will niemand lesen. Das verkauft sich nicht.
Letzte Ausfahrt Verzichtsmoral.
Das Schicksal. Es hatt‘ nicht sollen sein. Muss ja. Hilft ja nix, kannst nix machen, was soll’s, iss so. Den Käse wollte mir sogar jemand nach gescheitertem Koitus erzählen: „Vielleicht soll es einfach nicht sein mit uns…“ Es hatte dann doch noch sein sollen.
Oder die Zeit ist noch nicht reif für dich. Schau mal, mussten nicht alle großen Geister darben? Musste nicht Van Gogh sich erst ein Ohr abschneiden (Und nichtmal das hat was genützt)? Musste nicht Beethoven erst taub werden? (Um die Neunte zu schreiben?) Bukowski Postbote? (Um „Fast eine Jugend oder das Schlimmste kommt noch“ zu schildern?)
Könnte es denn nicht alles noch viel schlimmer kommen?
Da ist dann mit einem Mal aller Optimismus perdu und bleibt doch bei sich und er selbst.
Der stete Abgleich mit den durchaus wahrgenommenen Unannehmlichkeiten, um sich leuchtende Farben auf den Horizont der Zukünftigkeiten zu malen. Wenn es schon immer schlimmer kommen kann, dann kann es ja so schlimm schon nicht kommen. Wird schon irgendwie werden.
Klar, wird es irgendwie werden. Lediglich das „Irgendwie“ stört.
Irgendwie.
Irgendwie schweife ich ab.
Irgendwie habe ich auch einen im Kahn. Weil es manchmal ganz nett ist, sich einen Rausch zu verschaffen, da sich die ganze Scheiße auch nach Besorgung der täglichen Notwendigkeiten nicht in Wohlgefallen auflöst. Auch wenn die Miete gezahlt ist. Auch wenn es schlimmer kommen könnte. Im Moment sieht es sogar so aus, als würde es genau das tun.
To be concluded…

stone