Vor zehn Jahren


… gab es einen Science-Fiction-Schwerpunkt in der Z. Ich dachte mir: Warum nicht Erich Mühsams „Alle Wetter“ auf seine Kompatibilität zu untersuchen:

Aus Zett, Juni 2003

 

Mehrfach utopisch

Alle Wetter

Unser Englischlehrer hat uns seinerzeit erklärt, warum es „Science Fiction“ eigentlich nicht gebe. Die Bestandteile des Wortpaares schlössen sich – so die grob verkürzte Essenz seiner These – schlichtweg aus. Der Reiz des Genres besteht schließlich gerade in seiner Fiktionalität. In der Science Fiction, wahlweise auch phantastische Literatur genannt, geht es für gewöhnlich um eine Utopie oder Dystopie, also die Vision einer im Jetzt bereits angelegten Form von Gesellschaft oder ihrer Teile, die als erstrebens- oder vermeidenswert geschildert wird. Als literarisches Hilfsmittel wird der Irrealis gewählt. Ein imaginierter, meist technischer Fortschritt ermöglicht die Verlegung in ferne Welten oder eine radikal zugespitzte Form der Vergesellschaftung.

 

Public Enemy

In diesem Sinne teilt das Theaterstück „Alle Wetter“ von Erich Mühsam wesentliche Merkmale mit dem Genre der Science Fiction. Mühsam muss als „vergessener Dichter“ bezeichnet werden. Seine Werke sind nach einer kleinen Renaissance in der DDR der 60er Jahre und während der Studentenbewegung in der BRD der 70er Jahre fast vollständig von Markt und Bühne verschwunden. Als kommunistischer Anarchist, als prinzipieller Gegner jeglicher Staatlichkeit war und ist er offensichtlich für den bürgerlichen Kulturbetrieb nicht sonderlich ergiebig. Er, der stets politisches Engagement von Dichtern und anderen Künstlern einforderte, wobei die künstlerische Form hinter den Inhalt zurückzutreten habe, hatte als Schriftsteller – anders als bspw. Brecht – nie einen Erfolg, der ihm dauerhafte Popularität beschieden hätte. Zwar wird sein „Lied vom Revoluzzer“, das Spottlied auf die deutsche Sozialdemokratie, bisweilen noch gesungen, sein dramatisches Werk jedoch wird seit dem Ende der Weimarer Republik weitgehend ignoriert. Vor 125 Jahren in Lübeck geboren entwickelte sich Mühsam vom Individualanarchisten Stirnerschen Gepräges zum kommunistischen Anarchisten, war maßgeblich an der Revolution in Bayern 1918 und der kurzlebigen Münchner Räterepublik 1919 beteiligt und starb 1934 als eines der ersten prominenten Opfer der Nationalsozialisten im Konzentrationslager Oranienburg: Als Anarchist, kurzzeitiges Mitglied der KPD, Jude und so genannter Novemberverräter war Mühsam „Public Enemy Number One“.

Im Herbst 1930 schrieb er auf Burg Weißenstein, dem Wohnsitz des Schriftstellers Siegfried von Vegesack, sein letztes literarisches Werk: „Alle Wetter – Volksstück mit Gesang und Tanz“, erst 1977 zum ersten Mal veröffentlicht und bis heute nicht aufgeführt. Die Revolution war gescheitert, die Sowjetunion, der sich der dem Rätegedanken verbundene Mühsam anfangs solidarisch fühlte, hatte ihn enttäuscht. Die NSDAP stand kurz vor der Machtergreifung. Mühsam gehörte zu den frühen Warnern, auch wenn er dem Parlamentarismus nichts abgewinnen mochte. Vor diesem politischen Hintergrund erteilt er in seinem Stück der parlamentarischen Demokratie eine gründliche Absage und erzählt eine Parabel auf die „Befreiung der Gesellschaft vom Staat“, wie der Titel seines wenig später erschienenen theoretischen Vermächtnisses lautete.

 

Alle Wetter

Eine Dorfkollektiv, in dem die anarchistische Utopie verwirklicht ist, hat sich einen Wetterturm erbaut, mit dem Arbeiter und Bauern das Wetter nach ihren Erfordernissen regulieren können.

 

Ingenieur Niedermayer: „Das Wesen der Genossenschaft beruht darauf, daß der Gesamtertrag des Werkes den arbeitenden Genossen selbst zugute kommt.“

Darauf der Liberale Selters: „Das ist die reinste Anarchie!“

 

Der bürgerliche Staat versucht, diese Erfindung für seine Interessen zu nutzen und setzt eine Verwaltung ein, die aus dem Wetterturm eine volkswirtschaftlich profitable Einrichtung machen soll. Bei der Geburtstagsfeier des Staatspräsidenten kommt es zum spontanen Aufstand der Dorfbewohner, die sich nicht länger Lebens- und Produktionsweise vorschreiben lassen wollen. Ein Unwetter, mit Hilfe des Wetterturms herbeigeführt, verjagt, ähnlich wie in Heinrich Manns „Untertan“ die Herrschaften.

 

„Wir brauchen doch die Regierung nicht zum zuschauen, wenn wir uns freuen wollen.“ (Annie)

 

„Alle Wetter“ ist in mehrfacher Hinsicht ein utopisches Stück: Der Gegner war keineswegs eine Versammlung lächerlicher Figuren, naiv-programmatisch mit Namen wie Wimmerzahn (Staatspräsident), Dr. Blödel (Minister für Ruhe, Ordnung und Sicherheit), Biederhold (Pfarrer, MdL Kirchenpartei), Frau Wachtel von der Hausfrauenpartei oder Widerborst von der Partei der Unversöhnlichen charakterisiert. Arbeiter und Bauern waren bekanntlich keineswegs ein anarchistisch gesonnenes Kollektiv. Und in deutschen Dörfern sah es ebenfalls anders aus, wie Mühsam schon in den Tagen der Räterevolution feststellen musste. Ein Äquivalent zum Wetterturm, eine derart machtvolle Technologie hätte es da mindestens gebraucht, um zu vermeiden, wovor Mühsam auch in „Alle Wetter“ warnte: der faschistischen Herrschaft.

Mühsam selbst gab sich keiner Illusion hin. Der spontane Aufstand der Massen blieb Utopie – eine genuin anarchistische. Die Erhebung der klassenbewussten Dorfbewohner, die sich nicht von ihrem Lebensmittel – dem Wetterturm – trennen lassen wollen, steht im Gegensatz zum marxistisch-leninistischen Gedanken der proletarischen Diktatur unter Führung der kommunistischen Partei als Avantgarde der Arbeiterklasse. Zum Zeitpunkt der Niederschrift hatte Mühsam von der Theorie nicht Abstand genommen, die Hoffnung nicht aufgegeben. Dennoch unterscheidet sich „Alle Wetter“ deutlich von seinen beiden Theaterstücken der Weimarer Republik, die er – das Revolutionsdrama „Judas“, „Staatsraison“ über den Justizmord an den Anarchisten Sacco und Vanzetti – als revolutionäres Theater verstand und ausdrücklich als Agitationsstücke aufführte.

David Allan Shepherd, weist in „From Bohemia To The Barricades, Erich Mühsam and the Development of a Revolutionary Drama“, einer Arbeit über Mühsams dramatisches Werk  darauf hin, dass Mühsams künstlerische Entwicklung „eine Spannung zwischen radikaler Politik und konservativer Ästhetik“ offenbare. „Während die früheren Stücke kanonischen Genre-Standards folgten, verzichtet Mühsam in ‚Alle Wetter‘ auf die Idee der reinen Form und verwirklicht ein definitiv anarchistisches Drama.“

In Mühsams idealisierter Gesellschaft sind die Gegensätze zwischen Regierung und Bevölkerung überdeutlich gezeichnet. Die Möglichkeit, im Bestehenden schon das Neue zu leben, ist jedoch altes Mühsamsches und anarchistisches Gedankengut. Und selbst wenn die Kritik an Karrierismus und Heuchelei der Staatslenker bisweilen zu moralisierend daherkommt, formuliert Mühsam immer wieder treffende Kritik an der bürgerlichen Demokratie.

 

„Die Grundlagen seiner Wirtschaftsordnung darf ein pflichtbewußter Staat auch von einer Wählermehrheit nie und nimmer antasten lassen.“ (Geheimrat Stechbein)

 

Als die Auseinandersetzung zwischen Dorfgemeinschaft und Regierung eskaliert, kündigt die faschistische Arbeiter-Rassenpartei die nationale Revolution zur Rettung des Vaterlandes an.

 

„Der Regierung wird es obliegen, zu prüfen, ob der Weg der Diktatur mit der in der Verfassung festgelegten Demokratie in Einklang steht.“ (Dr. Blödel, Minister für Ruhe, Ordnung und Sicherheit)

 

In dem Moment, wo Barde, der Abgeordnete der Arbeiter-Rassenpartei Kajetan Teutsch zum Führer ausruft, fegt ihn ein Windstoß ins Off. Die Szenerie versinkt im Chaos. Im vierten Bild wird es langsam heller. Die befreite Dorfgemeinschaft zieht singend zur Arbeit: Eine Vision, die in der Zeit der Enstehung in so weite Ferne gerückt war, dass lediglich eine Fiktion den Gesellschaftsentwurf Mühsams plausibel erscheinen lassen konnte, zumindest in Deutschland. Im Sommer 1936 übernahm die anarchistische Gewerkschaft CNT in weiten Teilen Spaniens die gesellschaftlichen Funktionen, bis Franco und Konsorten die spanische Revolution niederschlugen.

 

Epilog

Mühsam erlebte das nicht mehr. 1933 entschloss er sich – zu spät – zur Flucht. Die Fahrkarte nach Prag schon in der Tasche, verschob er seine Abreise um einen Tag und wurde am Morgen nach dem Reichstagsbrand verhaftet. In der Nacht vom 9. auf den 10. Juli 1934 hängte man ihn auf. Es sollte wie ein Selbstmord aussehen.

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