Big in Japan
Zwei Wochen Japan – aufregend, to say the least. Vorbereitung mit Reise- und Sprachführer, letzteres aussichtslos. Nach Nagoya soll es gehen. Fast niemand, den ich kenne, war je in Japan, geschweige denn Nagoya. Im Internet finde ich das Urteil, die Zeit, die der Schnellzug „Shinkansen“ dort halte, sei die Zeit, die die meisten Menschen in Nagoya verbrächten – und das genüge eigentlich auch. Auch wenn Expo ist, während ich dort bin. Es sei teuer, ist zu hören, jemand weiß immerhin, wo man in Tokyo billig technische Geräte kaufen kann. Und Sabine, die schon da ist, sieht wenig von Nagoya, weil sie eine Ausstellung vorbereiten muss und der Taifun in der Nähe vorbeizieht und man nicht hinauskann und und und.
Also hinfliegen. Was ist das immer langweilig. Ich schaue mir in Hamburg noch Wilco an und laufe durch den Regen vorbei an Sex-Shops, Dönerbuden, Sexshops, Spielhallen, Dönerbuden und Sexshops.
Am nächsten Morgen am Flughafen treffe ich mich mit einer Freundin zum Frühstück, die mich später, als ich schon vorm Zöllner stehe, noch einmal anruft und fragt, was sie meiner Meinung nach den kommenden Sonntag wählen sollte. Ich sage: „Gar nichts“. Sie fragt warum. Ich schaue dem Zöllner ins Gesicht. „Weil es nicht dein Mittel ist.“ Was er wohl glaubt? „Und wenn ich doch etwas wählen will?“ Dann solle sie etwas nehmen, was garantiert nicht hineinkomme, das würde sie vor enttäuschtem Idealismus bewahren. Sie sagt, so habe sie sich das auch gedacht. Für den Flug nach London kriegen wir nur ein Tüte mit Plastiksandwiches. Irgendein Stress zwischen Fluggesellschaft und Cateringfirma. Dann nach Tokyo. Zuerst ist alles noch ganz normal. Irgendwelche Leute aus irgendwelchen Ecken der Welt rennen emsig herum, telefonieren, kaufen Zugtickets, wollen ihre Anschlussflüge erwischen oder begrüßen jemanden, der sie abholt. Mich holt niemand ab, ich muss weiter nach Nagoya. Noch sprechen die Leute Englisch, die Schilder sind immer auch in lateinischen Buchstaben gedruckt, man kann an jeder Ecke Geld aus dem Automaten ziehen. Der Zug nach Nagoya kostet ein Schweinegeld, dafür braucht der Shinkansen gerade mal eine Stunde und 45 Minuten für die Strecke, die in etwa der Distanz Berlin – Bremen entspricht. Und halten tut er auf dem Weg nur einmal. In Yokohama, einem Vorort von Tokyo, wie es mir vorkommt. Dass es mit 3,5 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes ist, lese ich erst später. Stadt fliegt an mir vorbei. Sie hört gar nicht auf, außer dass zwischendurch mal ein Reisfeld kommt, aber das ist auch Stadt, im Norden erheben sich dann die Berge, aber es ist diesig, weshalb man davon nicht so viel sieht. Der Schaffner kommt ins Abteil, verbeugt sich vielfach und geht dann seinem schmutzigen Handwerk nach. Als ich in Nagoya aussteige, merke ich erst, wie heiß es hier ist. Nach einer Weile erreiche ich endlich jemanden unter der Nummer, der einzigen, die ich habe, und warte vor dem Bahnhof. Sie hat sich schon so an den körperlosen Umgang der Japaner miteinander gewöhnt, dass sie mich zuerst nicht in den Arm nimmt oder gar küsst. Später erzählt sie mir von einem japanischen Pärchen, dass sich nach monatelanger Trennung das erste Mal wiedersah und lächelnd voreinander einen kuriosen Hüpftanz ausführte. Das höchste der Gefühlsäußerung.
„Hinab in die weißen Schlünde der Unterwelt“, wie es mein alter Kumpel Horst einmal nannte, fuhren wir, ab in die Vorstadtbahn, die nach Nishiharu fährt, welches von den Deutschen, auf die ich später noch zu sprechen kommen werde, Delmenhorst getauft.
Die Hitze, diese ganzen Menschen, die nicht aussehen wie wir, alle viel kleiner sind als ich und mich mit Neugier mustern (und manchmal vielleicht auch mit Widerwillen, als ich einmal mein schulterfreies Herrenunterhemd trage). In Nagoya am Bahnhof habe ich vielleicht noch drei weitere Langnasen, Gaijin oder wie immer sie die anderen nennen, gesehen. In Nishiharu? Keine. Außer meiner Liebsten natürlich und den anderen Deutschen, die hier an einem Kunststudentenaustausch teilnehmen.
Die nächsten Tage helfe ich Sabine, ihre Ausstellung zu vollenden und gewöhne mich so langsam an diese komischen kleinen Leute, die sich ständig verbeugen „wie ein Reishalm im Wind“, wie es mein Sprachführer poetisch formuliert. Ein paar Ausflüge in die Stadt, der Flohmarkt, auf dem es ganz ungeniert Pornos zu kaufen gibt, allerdings ausschließlich mit asiatischen Darstellerinnen, zum Teil vielleicht eigentlich zu jung dafür, das nimmt man möglicherweise hier nicht so genau. Rohes Rind, komische Bohnen, Hühnerherzen (wie ihr wisst, überlebt auch der Vogelgrippevirus das ganze Kochen und Grillen nicht), Sake, japanisches Bier, das so einigermaßen trinkbar ist, nette Irakaras, das japanische Pendant zur hiesigen Eckkneipe, in denen es zu den Drinks auch immer kleine Snacks gibt, natürlich nicht umsonst. Außer der Toilettenbenutzung ist hier nichts umsonst. Aber immerhin die. Ein Zeichen für den relativen Wohlstand in Japan? Anderes zumindest scheint darauf zu deuten: Weniger Zäune und Schlösser und Ab- und Ausschluss zumindest der vordergründigen Art. Die Obdachlosigkeit hält sich in Grenzen, gebettelt wird nicht, aber das kann schließlich auch andere Gründe haben – wie dass es vielleicht verboten ist. Oder es ist noch die Hilfsbereitschaft, die hier – womöglich Gebot der Höflichkeit, trotz ihrer prinzipiellen Verlogenheit eine bisweilen angenehme Sache – durchgesetzt ist. Die gehen wirklich einen Kilometer mehr mit dir, um dich vor dem Postamt abzustellen, nach dem du sie gefragt hast. Und ein Gastwirt rief eigens per Mobiltelephon einen Bekannten an, der Englisch konnte (zumindest besser als der Wirt mitsamt Belegschaft), auf dass der uns die Speisekarte erkläre. Unzählige Höflichkeitsfloskeln, mehrere Funklöcher und einige Missverständnisse später, und zur Freude des gesamten Lokals hatten wir einen Berg Köstlichkeiten auf dem Tisch und ließen es uns wohlgehen.
Die Ausstellung wurde jedenfalls mit einem Riesenfest eröffnet. Es ist nämlich nicht so, dass alle Japaner keinen Alkohol vertragen. Es sind nur einige. Und auch die lassen sich manchmal durchaus hinreißen, es trotzdem zu tun. Sie trinken allerdings ganz allgemein weniger als wir. Dafür haben sie Schirme dabei, die wechselweise gegen den Regen oder die Sonne aufspannen, und wenn sie Rad fahren, zwingen sie die Schirme in eine eigens dafür angebrachte Halterung am Lenker.
Nachdem die Feierlichkeiten vollbracht waren – es ging heiter zu – luden einige Professoren noch in ein Lokal namens Mr. Bonbon, wo einer von ihnen sich glatt schlafen legen wollte. Schuhe ausziehen ist übrigens obligatorisch, sobald man ein Lokal betritt. Man bekommt dann Schlappen zugewiesen, manchmal gibt es noch eigens Schuhe für die Toilette.
Nach der Pflicht kam die Kür: Wir erkundeten die Umgebung. Nach Inuyama ging der erste Ausflug. Dort gibt es ein Schloss, einen Tempel und Kormoranfischer, die ihre dressierten Kormorane des Nachts nach Fischen jagen lassen. Und einen Affenzoo mit Achterbahn. Fahrräder kann man sich umsonst ausleihen. Allerdings sollte man dafür nicht allzu groß sein. Am nächsten Tag fuhren wir nach Gujo-Hachiman, wo gepflasterte Straßen, hölzerne Häuser, mehrere Bergflüsse und ein Jungbrunnen sich ins hohe Tal ducken.
Ein weiterer Abend in Nishiharu endete beinahe fatal. Endlich einmal wollten wir in das Lokal um die Ecke, das mit einem in Deutsch geschriebenen Schild lockte: „Bar und Restaurant“, dazu ein Bitburger-Logo. Wir hinein, an die Bar gesetzt und erstmal Bier bestellt. Eine kuriose Choreographie fand statt. Ganz offensichtlich wollten wir Bier, sonst hätten wir keines bestellt. Da waren die Gläser, dort die Flasche. Und anstatt nun einzugießen, was wir begehrten, lächelte die Frau hinterm Tresen uns an und goss nicht. Nickte nur fragend und wir nickten antwortend. Der Trick: Du musst ihnen die Gläser hinhalten, schräg, sebstredend, sonst tun sie es nicht. Und sich selbst einzuschenken, schickt sich schon gar nicht. Der Mann neben mir sagte etwas, das die Dame hinter der Bar übersetzte. Ich sei „handsome“. Und ich sagte brav „arrigato“. Dann bekamen wir eine Schüssel mit etwas stark Gurkenartigem vorgesetzt, das wir nicht zu essen wagten. Wer weiß, es war vielleicht eine jener gefürchteten Seegurken, die angeblich der Chinesen schärfste Waffe gegen Fremde sind. Dann ging das Singen los. Wir waren nämlich in einer Karaoke-Bar gelandet. Wir wurden bedrängt, bekamen ein Verzeichnis von der Dicke eines Telefonbuchs, das sogar „Angel Of Death“ von Slayer beinhaltete. Wir einigten uns schließlich auf „House Of The Rising Sun“. Das passte schließlich ins Land der aufgehenden Sonne. Wir wurden gefeiert, auf Händen getragen, sie küssten uns die Füße. Sie wollten wissen, wer wir waren, woher wir kamen, wohin wir gingen. Die Besitzerin des Etablissements konnte nur unter Einsatz des eigenen Lebens davon abgehalten werden, Harakiri zu begehen, weil wir erzählt hatten, dass wir am nächsten Tag nach Tokyo wollten. Sie sei einsam, sagte ihre Kollegin aus Indonesien, die auch hinter der Bar arbeitete. Es wurden Lokalrunden für die ersten Deutschen geschmissen, die sich in die Bar verirrt hatten, seit man sich erinnern konnte. Ein Gast war selbst vor vierzig Jahren in Deutschland gewesen. Er wusste, was es bedeutet, ein Fremder zu sein. Ich sang für sie alle „Have You Ever Seen The Rain“, das hatte ich noch von den Minutemen im Ohr. Sie gerieten außer Rand und Band. Die thailändische Frau, die vor der Bar, nun ja, arbeitete? Sie wollte mit mir etwas von den Carpenters singen. Sie hing an mir, wie es nur eine Betrunkene kann. Meine Liebste eröffnete ihr den Blick auf meine behaarte Brust, worin sie sich verfing. Sie flehten um eine Zugabe. Sie bekamen eine erschütternde Fassung von „Under The Bridge“, die sie dann allerdings schon etwas routinierter bejubelten. Zu Abschied – es musste ja doch sein – gaben uns die Damen noch Geleit bis vor die Tür, allerdings nicht bevor sie uns ein Sümmchen abgeknöpft hatten, das unverschämt zu nennen kaum untertrieben wäre. Aber wie das so ist: Sie rechnen es einem bei Nachfrage stets akribisch und so plausibel vor, dass Widerstand zwecklos ist. Betrunken gingen wir heim ins Heim.
Am nächsten Tag, es blieben mir nur noch vier, ging es dann endlich nach Tokyo, wo wir Etsuko besuchen wollten, die meine Liebste in Tabor kennen gelernt hatte. Aber darüber erzähle ich euch vielleicht nächstes Mal mehr.
(aus TRUST # 115)