Schreiben nach Gehör – Hubert Selby jr. (Intro # 68)


Von den Autoren, die in den fünfziger und sechziger Jahren einen neuen Ton in die amerikanische Literatur brachten, ist Selby einer der letzten Überlebenden. Burroughs, Bukowski, Ginsberg und natürlich auch Kerouac sind längst tot und Literaturgeschichte. Aber zu denen hat er sowieso nicht wirklich gehört, auch wenn Bücher wie sein furioses Debüt ‚Letzte Ausfahrt Brooklyn‘ jenen berüchtigten amerikanischen Traum, der sich, so scheint’s, immer noch einer erstaunlichen Beliebtheit erfreut, gleich jenen in einer bis dahin unerhört drastischen Sprache als ziemlich unappetitliche Ideologie desavouieren. Wo die Helden der Beat-Generation ihr eigenes Leben, den Strom ihres Bewusstseins in den Mittelpunkt ihrer Literatur rückten, warf Selby seinen Leser und Leserinnen das Leben gescheiterter Existenzen zur Ansicht vor. Keine tragischen Helden, sondern ganz einfach Repräsentanten dessen, was in einem kapitalistischen Staat wie den USA nun mal so an Abfall anfällt. Und wie sehr sie sich auch bemühen mögen, es scheint keinerlei Weg hinaus zu geben, den sie aus eigener Kraft einschlagen könnten. Der Autor erscheint dabei lediglich als Medium, das in einer mitreißenden Prosa möglichst viel von den Gedanken und Gefühlen der gequälten Existenz notieren will. Im letzten Jahr erschien in den USA nach über zehn Jahren wieder ein Buch von Hubert Selby, im Oktober erscheint die deutsche Fassung in der Übersetzung von Günter Ohnemus, der bereits die Bücher Richard Brautigans übersetzte, bei Achilla Presse, einem kleinen Verlag mit Sitz in Bremen und Hamburg. Und weil Selby ohnehin gerade in Paris war, wo ein Dokumentarfilm über ihn Premiere hatte, organisierten seine deutschen Verleger gleich noch eine Lesereise. Die erste, seit er vor zehn Jahren mit Henry Rollins durch Europa reiste. Eine Reise wiederum, an die der mittlerweile vom Gewicht seiner 71 Jahre gebeugte und fast zerbrechlich wirkende Selby gern zurück denkt. „Ich hatte Henry ein paar Jahre vorher kennengelernt und wir kamen gut miteinander aus. Wir wurden sehr enge Freunde. Er beschloss, wir sollten eine Spoken-Word-Tour durch Europa machen. Ich sagte: Fein, lass uns los! Und es war großartig. Mit sechzig Jahren wurde ich ein Rock’n’Roll-Star.“, erinnert er sich, und lacht dabei. Ein jungenhaftes Lachen. „Ich mag Henry sehr, sehr gern. Er ist ein sehr intelligenter Typ, ein energetischer Typ, sehr nett. Es war eine wundervolle Erfahrung.“ Irgendein Vogel keckert in den Bäumen, auf die man von dem Balkon in Bahrenfeld blickt, auf dem wir sitzen. „Oh, halt die Klappe! Der war vorhin noch nicht da. Wahrscheinlich will er an die Äpfel hier drüben, aber wir sind ihm im Weg.“ ‚Willow Tree‘ erzählt die Geschichte des 13-jährigen Bobby und sein Verhältnis zu Moishe, einem alten Mann, der ihn wieder aufpäppelt, nachdem Bobby und seine Freundin Maria von ein paar Jungs überfallen werden, die Maria Lauge ins Gesicht schütten und Bobby zusammenschlagen. Der Ort: New York, verlassene Häuser inmitten von Armut und Rassismus. In ihren Bücher gibt es nicht unbedingt das alte Schema von Exposition, Durchführung und Auflösung. Sie zeigen eher einen Teil eines Lebens, als sagten sie: Hier habt ihr’s! Nehmt das. Es gibt keine Hoffnung am Ende des Buches. „Ja.“, lacht Selby. „Ja. Es geht alles weiter. Du löst heute ein Problem, und morgen gibt es ein neues. So ist das Leben nun einmal.“ Wenn man sich beispielsweise Bobbys Mutter anschaut, so scheint es, dass ihre Situation völlig ausweglos ist. „Ich weiß auch nicht, was sie tun könnte. Es gibt Menschen, die so gefangen sind in den Umständen ihres Lebens, und es scheint keinen Weg heraus zu geben, es sei denn eine Macht von außen hilft ihnen. (…) Bobbys Mutter bekommt ihr erstes Kind als Teenager. Ich weiß nicht, was so jemand tun kann, ohne Hilfe von Außen. Ich weiß es einfach nicht.“ Der Autor erspart dem Leser, nicht zum ersten Mal, ein moralisches Urteil. Als ‚Letzte Ausfahrt…‘ in England erschien, kam es zu einem Prozess, dessen Zweck es war, zu klären‘ ob es sich um ein obszönes und deshalb zu indizierendes Werk handele. Dabei war eine zentrale Frage, ob ‚Letzte Ausfahrt….‘ ein unmoralisches Buch sei. „Aller Wahrscheinlichkeit nach beziehen sich Leute auf das Fehlen eines Urteils, wenn sie ‚Letzte Ausfahrt…‘ ein unmoralisches Buch nennen. Die Tatsache, dass der Autor nicht sagt: Dieses ist richtig und jenes ist falsch. Das ist gut, das ist böse, sondern, dass er sagt: Es ist! Ich glaube, dass in dem Buch ein Geschmack davon ist, wie es ist, ohne Liebe zu leben. Das ist ungefähr die kürzeste und einfachste Definition, die ich von dem Buch geben kann. Es sind die Schrecken einer Welt ohne Liebe. Und wenn du es schaffst, den Horror einer Welt ohne Liebe zu beschreiben, dann würde ich das moralisch nennen.“ Nach seinem neuem Roman wird das europäische Publikum vielleicht auch bald in den Genuss eines neuen Films nach einem Buch von Selby kommen. „Wir haben gerade vor ein paar Monaten die Dreharbeiten zu ‚Requiem für einen Traum‘ beendet. Der wird wohl bald herauskommen.“ Ein Hollywood-Film? „Nein, zum Glück nicht. Es ist ein kleiner Independent-Film von einem Mann, der einen schon einen Independent-Film namens ‚Pie‘ gedreht hat. Er bekam letztes oder vorletztes Jahr den Regiepreis beim Sundance-Festival. Er ist ein wundervoller Regisseur, und wir arbeiteten zusammen an dem Script. Ich weiß nicht… Es könnte ein richtig guter Film werden. Wir werden sehen.“ Sind sie wieder in dem Film zu sehen, wie damals in der Verfilmung von ‚Letzte Ausfahrt…‘? „Ja. Ich spiele einen fiesen Gefängniswärter mit Uniform.“ Er macht mit grimmigem Gesicht vor, wie er den Wärter spielt, und muss wieder laut loslachen. Das ist eine Rolle, die Henry Rollins auch gespielt hat, in ‚Lost Highway’… „Ja, er erzählte mir davon, als sie gedreht haben. Was mit ihm passierte, als er die ganze Uniform mit Pistole und Gummiknüppel anhatte. Er sagte, er fühle sich nicht nur anders, sondern die Leute sähen ihn ganz anders an, wenn er durch die Hotel-Lobby ging.“ Als er sich die Szene vorstellt, muss er wieder lachen. Kennen sie seine Musik? „Ich höre diese Art von Musik nicht. Ich mag lieber etwas ruhigere Musik.“ Jazz? „Ja, ich höre noch Jazz, aber nicht zu oft. Ab und zu höre ich alte Platten, die ich habe. Aber ich höre in erster Linie klassische Musik, Kammermusik hauptsächlich. Ich frage, weil mich ihre Erzählweise manchmal an die offene Form und die Improvisation im Jazz erinnert hat. „Ich schreibe immer nach Gehör. Meine Arbeiten sind alle bewusst musikalisch, und manchmal gibt es Strukturen wie im modernen Jazz. Manchmal könnte man es wohl auch klassisch nennen. Ziemlich oft gibt es Variationen über ein Thema. Vor allem in ‚Mauern‘, meinem zweiten Buch, war das die Grundstruktur.“ TEXT: ANDREAS SCHNELL

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