Nach Zärtlichkeit ist mir nicht unbedingt zumute. Nach Zynismus schon gleich gar nicht. Im Moment ist kaum Zeit, sich Befindlichkeiten zum Thema zu machen. Die Notwendigkeiten fressen mich auf. Deswegen – nicht, weil mir nichts einfiele – schiebe ich das Verfassen dieses Textes nebst anderem vor mir her, damit ich die essentiellen Dinge erledigen kann. An diesem Wochenende fiel einer meiner Termine aus, was überraschend entspannte Zustände ermöglichte. Ich, nicht faul, benutzte sie, um mich emsig zu reproduzieren. Und in ein paar Tagen bin ich diesem Irrenhaus für ein paar Tage entflohen. Dort wird es warm sein. Andalusia with fields full of grain / i have to see you again again / take me, spanish caravan…, singt Jim Morrison in meinem Kopf. Draußen ist Sommer, prall, herrlich, voller Menschen, die sich zumindest für ein paar Momente ignorant zu den Härten ihres Alltags stellen. Eis essen, nackich am See liegen, ein Bier am Mittag, ein törichtes Grinsen im Gesicht, glatt geneigt, einmal nicht die Konkurrenz im Privatleben fortzusetzen, zumindest kann es so erscheinen. Und ich will auch gar nicht darüber sinnieren, ob es vielleicht doch so ist. Doch als ich neulich nachts, eine dieser drei, vier, fünf warmen Nächte, die es in einem durchschnittlichen Bremer Sommer gibt, am Fluss entlang nach Hause ging, müde schon um Mitternacht (eine Freitagnacht), wusste, ich würde nur noch schlafen, und eine alte Liebe traf, der ich nun gar nicht mehr nachhing (wie ich erneut feststellte), machte ich den verheerenden Vergleich: Was wir damals sonst noch trieben, wie die Welt voller Möglichkeiten schien – nicht als Chancen gedacht, die dann eben nur allzu selten eintreffen – und in dummer kindlicher Überheblichkeit nicht einsehen wollten, dass es schon seinen Grund hatte, warum die meisten Menschen so elendig in der Tretmühle endeten, dass es keineswegs ihre mangelhafte, unterlegene Sicht der Dinge war, die sie dorthin verschlug, sondern eben genau die Möglichkeiten dieser Gesellschaft. Und jetzt: Mittendrin in der Scheiße, permanent Kalkulationen anstellend, wie dem gröbsten Elend zu entgehen wäre. Und dann das gelegentliche Jobangebot. Nachdem der den Verhältnissen geschuldete Mist bedacht ist – Was muss ich in meine Bewerbung schreiben? Mit wem habe ich es zu tun? Kann ich damit rechnen, dass nach der vorläufigen Frist weitere Beschäftigung möglich ist? Wenn nicht, erlaubt mir der Job, zumindest andere Jobs nebenher zu betreiben? Kann ich mich dem inhaltlichen Programm des Jobs gemäß verstellen, die entsprechenden Heucheleien leisten? – muss ich beinahe kotzen. Im Grunde ist das ja auch schlimmer noch als die mir gleichfalls Unwohlsein bis hin zur körperlichen Übelkeit verursachende Euphorie über die Erfolge der Deutschen Mannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft. Sehr witzig: Ein Typ sagt im Interview im Zusammenhang mit dem Begriff Patriotismus, das habe damit nichts zu tun, es sei doch völlig normal, dass man sein Land liebe. Und der fragende Journalist der taz, die das wissen wollte, fand schlicht gar nichts dabei. Ich habe mich dann gefreut, als Deutschland aus dem Wettbewerb flog, was allerdings auch nicht verhinderte, dass der dritte Platz weltmeisterlich gefeiert wurde, gleich bei mir um die Ecke, mit besoffenen Fahrern, denen die Polizei dies im nationalen Taumel durchgehen ließ. Und angeblich wurden sogar in der Roten Flora zu Hamburg – jenem Hort der political correctness – auf einem Konzert Punks gesehen, die schwarzrotgoldene Iros trugen. Und Wochen vorher am Hafenklang – ich wartete auf ein Interview – der Sieg gegen Polen auch von „der Szene“ bejubelt wurde. Es wird schon so sein, dass die Partei für die Nation nicht neu ist (und sie muss auch gar nicht den aktuellen Beschlüssen der Regierung gelten – sie soll auch schließlich viel grundsätzlicher sein, unabhängig von Tagespolitik, als Verbundenheit mit dem Staat, in den man nunmal ganz zufällig geboren wird und dem man per Staatsgewalt als Teil des Staatsvolks zugeschlagen wird), sondern jetzt eben den vermeintlich unverdächtigen Zweck (ist ja nur Sport, so lautet die lachhafte Behauptung, die dann doch nicht erklärt, warum Leute sich dann die Staatsfarben ins Gesicht malen) zum Anlass nimmt, um sich zu entblößen. Die Fahnen an den Autos sind natürlich nur der Ausdruck des Gedankens, nicht der Gedanke selbst.
Und nichtmal darüber habe ich den letzten zwei Wochen nachgedacht. Wenn ich aus Andalusien wiederkomme, erwarten mich wieder diese Kalkulationen, die einen glatt ins Irrenhaus bringen könnten, wäre man nicht schon da. Und dann bin ich wieder fort. Beschäftige mich mit etwas ganz anderem, habe mich in einer Laune dazu hinreißen lassen, mich als Künstler (!) zu bewerben bei einem Festival in Tabor. Wenn es danach etwas zu erzählen gibt, werde ich das tun. Und Tokyo – meine Güte, wie lange das her ist. Sushi und Kento’s mit den Oldie-Bands und ihrem Fantasie-Englisch und den Geschäftsleuten mit den gedungenen Bräuten, die mir ein Gespräch über Merkel aufdrängen wollten (deren Wahl ich in Japan erlebte, letztes Jahr im September), die englische Künstlerin, die im gleichen Haus lebte wie unsere Gastgeberin und meinte, sie könne aus den Energien an der Handfläche unglaublich entlegene Dinge über Menschen herauslesen, und unsere Gastgeberin, die uns schalkhaft den Kühlschrank öffnete und sagte, dies sei unser Essen, und dann die Tür an der anderen Seite öffnete – und das sei ihres. Die uns graubraunen Bohnenschleim auftischte, in dem sicheren Wissen, den europäischen Geschmack damit garantiert nicht zu treffen, was uns unmittelbar anzusehen war, während sich Fäden vom Napf mit dem Schleim zu unseren höflich verzogenen Mündern zogen. Das Verbeugen allerorten und diese schwüle Nacht in den wochenends zu Fußgängerzonen umfunktionierten Einkaufsstraßen nahe des Hauptbahnhofs, das irre Pulsieren dieser Stadt und die alten Tempel und Schreine mittendrin. Und ein Onzen, das traditionelle japanische Bad, nach Männlein und Weiblein getrennt, weshalb ich meinen deutschen Mitbaderinnen erzählen musste, wie die durchschnittliche Größe des japanischen Gemächts ist, was aber bekanntlich im nichterigierten Zustand unmöglich und deshalb uninteressant ist. Interessanter war, als einzige Langnase unter lauter Japanern zu sein (zugegeben, es mögen ein paar Koreaner darunter gewesen sein), deren Kinder mich neugierig beäugten, weil sie wohl noch nie einen Menschen mit so vielen Haaren am Leib gesehen hatten. Die heißen vulkanischen Quellen, die dirch verschiedene Pools und über Steinbänke liefen, der bestirnte Himmel über mir, ich sag euch, es war großartig. Koto-Musik plätscherte über die Szene und ich legte mich nach dem Bad auf eine Matte draußen und war umgehend entschlummert wie ein Baby, trotz des Geräuschs der verschiedenen Massage-Automaten, die die Menschen auf ihnen durchwalkten, dass es gar nicht gesund aussah, aber wahrscheinlich war… Es gäbe viel zu schreiben. Mal schauen, ob es irgendwann Zeit dafür gibt. Bis dahin werde ich darüber nachdenken, ob man nicht an den Voraussetzungen etwas ändern kann.
aus Trust # 119